domradio.de: Wo sehen Sie derzeit einen besonderen Missbrauch von Religion, denn das Thema der "Woche der Brüderlichkeit" ist ja überschrieben mit "Um Gottes Willen" - Missbrauch von Religion.
Micha Brumlik (diesjähriger Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille): Ich sehe das auf zwei Seiten; einerseits bei der rechtsradikalen Pegida-Bewegung, die etwa in Dresden an Weihnachten glaubte, Weihnachtslieder singen zu müssen. Wobei anzunehmen ist, dass die meisten vom Christentum nicht mehr wissen als dass sie die ersten ein oder zwei Strophen von "Oh Tannenbaum" kennen. Auf der Gegenseite sehe ich oftmals bei jenen jungen, zum Islam übergetretenen deutschen Männern, dass sie diese Religion lediglich missbrauchen, um Gewalt ausüben zu können.
domradio.de: Hat denn nicht auch das etablierte Parteiensystem ein Stück weit versagt, das solche Strömungen und Entwicklungen zwar verteufelt, aber andererseits keine Antworten auf diese Phänomene liefert?
Brumlik: Ja, das ist richtig. Manche haben da große Berührungsängste und halten das unter einem gewissen psychologischen Recht für Fälle von Schmuddelkindern. Aber es wäre in der Tat zu wünschen, dass sich auch die Parteien dazu deutlicher äußern. Wobei man auch darauf hinweisen muss, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland mit unserem Staatskirchenrecht, mit unserem schulischen Religionsunterricht sehr viel besser aufgestellt sind, als das etwa im laizistischen Frankreich der Fall ist, wo es so gut wie überhaupt keine institutionellen Fähigkeiten gibt, sich mit diesen Fragen überhaupt auseinanderzusetzen. Da hat - glaube ich - das deutsche Schulsystem einen großen Vorteil.
domradio.de: Wie weit muss Integration Andersgläubiger in Deutschland gehen, ohne Assimilation? Und auf der anderen Seite: Wie weit muss da auch die Gesetzestreue beachtet werden - beispielsweise die Gleichheit von Mann und Frau?
Brumlik: Ein Bürger, der integriert sein will, muss gesetzestreu sein. Das gilt für ethnisch Deutsche wie für Immigranten. Ich spreche von einem dünnen Integrationsbegriff. Integriert ist, wer sich an die Gesetze hält, Steuern zahlt, nicht straffällig wird und - last but not least - die Verkehrssprache spricht. Alles andere, die sogenannte Integration ins Wertesystem, das lässt sich jedenfalls staatlich, auch durch Unterschriften, überhaupt nicht verordnen. Das ist eine Aufgabe, die die Gesellschaft in ihren Bildungsinstitutionen und in ihrem alltäglichen Miteinander selbst leisten muss.
domradio.de: Wie sehen sie die aktuellen internationalen politischen Tendenzen, dass die Flüchtlingsdiskussion auch zwischen Staaten gegeneinander ausgespielt wird? Ich denke zum Beispiel an Russland, wo aktiv gegen Juden oder Muslime gehetzt wird, ich sehe die Diskussion mit der Türkei, dass man im Grunde da einen Menschenhandel betreibt. Werden religiöse Menschen auch zum Spielball von internationaler Politik?
Brumlik: Es ist genau so und das ist außerordentlich zu bedauern. Hier macht sich ein neuer Zynismus in der zwischenstaatlichen Politik breit, von dem wir bisher so nichts gewusst haben. In der Tat steht damit sowohl die europäische Integration als auch ein friedliches Miteinander verschiedener Staaten auf dem Spiel. Ich glaube nicht, dass es deswegen zu Kriegen kommen wird, aber es kann sein, dass der Frieden immer kälter wird und auf dem Rücken von Flüchtlingen ausgetragen wird.
domradio.de: Was müssen Religionen jetzt leisten, die sich ja auch politisch einmischen sollen, um den Menschen eine Perspektive zu geben, ohne dass sie gleich zu den rechtsreaktionären Parteien abwandern oder sich Bewegungen anschließen, die alles Mögliche verteufeln, letztlich auch die Demokratie?
Brumlik: Wir brauchen einen Blick auf die Religionen, um deren universalistische, humanistische Werte deutlich zu machen. Um Fundamentalismus jeder Art zu vermeiden, ist es dabei unverzichtbar, dass der Blick auf die religiösen Urkunden auch historisch-kritisch ist, dass man sieht, dass diese Urkunden in ihre Zeit hinein geschrieben und geoffenbart wurden und sie nicht eins zu eins auf die Gegenwart übertragbar sind.
Das Interview führte Peter Kolakowski.