Publizist zum Zentralrats-Vorsitzenden

"Wir haben als Juden etwas zu sagen"

Vor der Wahl des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden zieht der Publizist Günther B. Ginzel im domradio.de-Interview eine gemischte Bilanz und berichtet über das jüdische Leben in Deutschland.

Wie sicher sind Juden in Deutschland? (dpa)
Wie sicher sind Juden in Deutschland? / ( dpa )

domradio.de: Wie modern stellt sich heute das Judentum in Deutschland dar  - nach vier Jahren Amtszeit von Herrn Graumann?

Ginzel: Ich würde sagen: Es stellt sich trotz des Zentralrats moderner dar. Doch ich hätte gerne zum Abschluss einer Legislaturperiode gehört, was von dem Zentralrat tatsächlich getan wurde, um den innerjüdischen Pluralismus zu stärken.

Domradio.de: In den Medien wurden in den vergangenen Monaten bei Kundgebungen Plakate gezeigt, die offen antisemitisch waren. Welche Rolle spielt Antisemitismus im Alltag?

Ginzel: Juden begegnen nicht ständig Antisemiten oder antisemitischen Bemerkungen in ihrem privaten Leben. Soweit ich das überblicke als Mitglied in zwei Gemeinden: Alle haben nichtjüdische Freunde, sind in diese Gesellschaft integriert, fühlen sich als Teil, leisten das, was alle anderen auch tun.

Was teilweise bestürzt:  So setzen etwa Teile der Linken  den alten kommunistischen, stalinistischen antisemitischen Kommunismus fort und nennen das jetzt Israelkritik. Es läuft völlig aus dem Ruder. Und natürlich ist  für jüdische Menschen, die die Situation kennen, die einseitige Israelkritik schon etwas belastet.

Gleichzeitig haben wir alle wunderbare nichtjüdische Freunde. Und nicht zuletzt in den Kirchen haben wir Partner, von denen wir wissen, dass sie mit aller Macht auch gegen Antisemitismus ankämpfen. Wir stehen nicht alleine und isoliert dar.

domradio.de: Als neuer Präsident des Zentralrats der Juden soll der Arzt und Diplomat Josef Schuster die Nachfolge von Dieter Graumann antreten. Was sind ihre größten Erwartungen an Schuster und den Zentralrat?

Ginzel: Dass er sich mit Nachdruck mehr um das Innerjüdische kümmert und regelt, die die Rabbiner nicht geregelt bekommen, weil sie gespalten sind. Dass der Zentralrat sehr viel deutlicher eine Koordinationsfunktion versucht. Dass auch deutlich gemacht wird, wie wir die Integration der russischsprachigen Juden noch besser in den Griff bekommen. Die Zahl der Gemeindemitglieder fällt. Wir müssen mehr tun, um auch die Jugend heranzuziehen.

Eine ähnliche Situation gibt es ja auch in den Kirchen. Auch hier ist die Frage der Glaubwürdigkeit. Und die Frage: Wenn du jüdisch bist, was bedeutet das? Wenn du katholisch bist, was hat das für einen Einfluss auf dich und dein Leben und dein Verhalten in dieser Gesellschaft? Das müsste auch innerjüdisch sehr viel stärker diskutiert werden. Es müsste sehr viel stärker darüber nachgedacht werden, wie man die Zusammenarbeit auf allen Ebenen  - von der Basis angefangen – mit den nichtjüdischen Kreisen, insbesondere den Kirchen, verstärken kann.

Ich glaube, wir haben als Juden auch etwas zu sagen bei der Hilfe von der Integration von Menschen. Gerade auch weil wir seit 2.000 Jahren in diesem Land zu Hause sind - aber eben auch immer eine verfolgte Minderheit waren - haben wir viel Erfahrung, was es bedeutet einerseits das Eigene zu erhalten und den Kern der Identität zu stärken, und gleichzeitig offen zu sein, was in dieser nichtjüdischen Umwelt geschieht. Das ist ja auch ein spannendes Angebot, dass das Judentum in Deutschland immer hoch willkommen angenommen hat.

Das Interview führte Mathias Peter.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Weder domradio.de noch das Erzbistum Köln machen sich Äußerungen der Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen zu eigen.


Quelle:
DR