In den zwei Optionen von Regierungsmitgliedern, ihren Amtseid mit oder ohne die religiöse Beteuerungsformel "So wahr mir Gott helfe" zu leisten, leuchten Freiheitlichkeit und Säkularität des demokratischen Verfassungsstaats auf. "Es besteht keine Staatskirche", stellt der ins Grundgesetz übernommene Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 fest, Staat und Kirche sind getrennt. Zugleich steht es aber allen Menschen frei, sich auch in der politischen Sphäre religiös zu bekennen und bei der Amtsübernahme öffentlich auf Gottes Hilfe zu bauen. Dieses höchstpersönliche Bekenntnis verdient – so oder so – wechselseitig Respekt unter Gläubigen wie Nichtgläubigen. Es gab auch schon bekennende Christen, die von der religiösen Bekräftigung ihres Eids keinen Gebrauch machten, etwa den Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow.
Aus frommen Kreisen ist allerdings immer wieder Bedauern und Verdruss über Regierungsmitglieder zu vernehmen, die meinten "auf Gottes Beistand verzichten" zu können. Als bislang einziger Bundeskanzler ließ Gerhard Schröder, obwohl Mitglied der evangelischen Kirche, bei seinen Vereidigungen den Gottesbezug weg. Das halbe Kabinett folgte ihm darin, darunter Oskar Lafontaine, Joschka Fischer und Jürgen Trittin. Die Gottlosen hätten nun das Ruder übernommen, schallte es aus konservativen Kirchennischen. Einen "Trend" setze Rotgrün damit nicht. 2005 verzichtete nur Justizministerin Zypries auf die religiöse Formel, 2009 und 2013 schworen sogar alle Minister ihren Eid wieder mit "So wahr mir Gott helfe", 2018 verzichteten nur Olaf Scholz, Katarina Barley und Svenja Schulze darauf.
Ausdruck fortschreitender Säkularisierung
So gesehen kann die Tatsache, dass fast die Hälfte des neuen Bundeskabinetts – alle Grünen und drei von acht Sozialdemokraten – die nichtreligiöse Eidesformel wählte, zwar als ein Ausdruck fortschreitender Säkularisierung verstanden werden, doch dürfte sich dies bei einer Regierungsbeteiligung der Christdemokraten bald wieder ändern. Vor allem aber: Was erwarten Christgläubige in einer nur noch zur Hälfte nominell christlichen Gesellschaft mit nicht mal zehn Prozent Gottesdienstbesuch an "normalen" Sonntagen und wachsender religiöser Pluralität von ihren Politikern? Auch Gläubige können sich Vereidigungen nicht ernsthaft als Leitkultur-Demonstration mit Heuchelfaktor wünschen, wenn sie die Freiheiten des Artikels 4 und das Gewissen als maßgebliche Instanz politisch-ethischen Entscheidens zu schätzen wissen.
Trotzdem darf man selbstverständlich mit einer langen Tradition europäischer Ideengeschichte der Meinung sein, dass eine "Gesellschaft ohne Gott" soziale und politische Risiken birgt. Sozialwissenschaftliche Studien offenbarten signifikante Unterschiede zwischen den Einstellungen kirchennaher, kirchenferner und konfessionsloser Bürger. Und dies nicht nur zu Fragen der Bioethik, des Schutzes vorgeburtlicher Menschenleben und der Ehe und Familie bis hin zur gewünschten und realen Kinderzahl, sondern auch beim Rechtsgehorsam, der Leistungs- und Hilfsbereitschaft, dem Vertrauen in Mitmenschen und der politischen Mäßigung. Wohlgemerkt: Es sind Unterschiede nur im Durchschnitt. Eine Aussage über alle ist keine über jeden. Es wäre vermessen, wenn Gläubige Nichtgläubigen mit moralischem Misstrauen begegneten, und sogar ein Verstoß gegen ihr eigenes christliches Menschenbild und die kirchliche Soziallehre. Diese ist ausdrücklich bündnisfähig und –willig jenseits von Kirchenmauern, weil ihre Erkenntnistheorie sich nicht allein auf spezifisch christliche Offenbarungswahrheiten stützt, sondern auch auf ein sozialphilosophisches Denken von der Natur des Menschen her, wonach man sich grundsätzlich mit jedermann, unabhängig von seinem Glauben, vernünftig auf das Gute verständigen kann. Auch "Heiden" haben nach biblischer Auffassung Anteil an der göttlichen Ordnungsvernunft, weil ihnen als Geschöpfen "von Natur aus (...) die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab" (Röm 2, 14f).
Ohne Gott alles erlaubt?
Hinzu kommt, dass man Dostojewskis berühmte Mahnung: "Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt" nach historischer Erfahrung um das anmaßend selbstermächtigende Gegenstück ergänzen muss: "Wenn Gott mit uns ist, dann ist alles erlaubt" – oder uns jedenfalls mehr als den anderen. Wer sich dieses Abgrunds einer immer möglichen und auch gegenwärtigen Pathologie von Religion nicht bewusst ist, den will man als Ankläger "gottloser Politiker" schon gar nicht hören. Nicht zuletzt der Missbrauchsskandal oder die schmutzigen Maskendeals "christlich-demokratischer" Abgeordneter, aber auch die Angriffe angeblich superfrommer Christen auf die verfassungsmäßigen Ordnungen der USA oder Polens sollten Christen Realismus und Demut gelehrt haben: Religiöse Lippenbekenntnisse darf man nicht mit moralischer Integrität kurzschließen und ostentative Rechtgläubigkeit nicht mit dem Geist des Evangeliums.
Dass moralisches Schwarz-Weiß-Denken in politischen Lagerkategorien fehl geht, deutet zum Beispiel der jüngste Infratest-Befund an, dass eine Abschaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche auch von je 37 Prozent der SPD- und FDP-Anhänger und von jedem Vierten der Grünen abgelehnt wird, Da die Gesamtbevölkerung hier mit 47 pro zu 40 Prozent contra "Liberalisierung" gespalten ist, kann man sich leicht ausrechnen, dass auch rechts der Mitte, inklusive der Unions-Klientel, die kirchliche Haltung keineswegs mehr die Unterstützung findet, die sie früher einmal hatte. Vor allem aber ginge es fehl, das Kriterium der "Christlichkeit" von Politik auf ein oder zwei Themen zu verengen wie das in den letzten Jahren insbesondere das konservative Kirchenmilieu mit den Themen Abtreibung und Homo-Ehe betrieb. Auch der gerechte Lohn und menschenwürdige Arbeitsbedingungen, die Bewahrung der Schöpfung, großherzige Hilfe für Flüchtlinge und der Einsatz für die Menschenrechte und gegen Unrechtsherrschaft weltweit sind eminent christliche Themen. Und nicht zu vergessen: Neben den Inhalten von Politik können auch der Habitus von Politikern im Ringen um Macht und ihre Lebensführung sowie ihr Umgang mit der Bevölkerung ein mehr oder weniger christliches Zeugnis geben.
"An ihren Früchten ..."
So gesehen gilt auch im Blick auf Kanzler und Minister mit oder ohne Gottesbezug gleichermaßen der biblische Rat, sie "an ihren Früchten" zu erkennen und "alles zu prüfen, das Gute aber zu behalten". Längst hat sich das Wahlverhalten auch der kirchennahen Bürger ausdifferenziert, wenngleich sie immer noch bei CDU/CSU deutlich überrepräsentiert sind und in der Wählerklientel von AfD und Die Linke krass unterrepräsentiert. Eine Haltung des abwartenden Wohlwollens auch gegenüber kirchenferneren Regierungen und dann, wo nötig, der konstruktiven Kritik ist christlich angebracht. Mehr noch: Der Völkerapostel Paulus mahnt im Brief an Timotheus: "Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen, für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können. Das ist recht und wohlgefällig vor Gott". Man schließe übrigens nicht aus, dass auch der eine oder die andere unter den Ministern, die heute "ohne Gott" schworen, für solches Gebet Sympathie und Dankbarkeit empfinden kann. Die Zeiten sind wahrlich so brenzlig für menschenwürdige politische Ordnungen, dass Religiöse und "religiös Unmusikalische" Grund genug haben, Gemeinsamkeiten als "Menschen guten Willens" zu suchen. Oremus!
Andreas Püttmann
Zum Autor: Dr. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und katholischer Publizist aus Bonn.