Religionsforscher sieht globales Umdenken in Wissenschaften

"Stille Revolution"

Hier der Mensch, dort die Natur. Dieser Gedanke dominierte lange Natur- und Geisteswissenschaften. Umweltzerstörung und Entfremdung von der Mitwelt waren und sind die Folgen. Nun bahnt sich eine Denk-Revolution an.

Autor/in:
Angelika Prauß
Spielende Kinder vor Windrädern / © thelamephotographer (shutterstock)
Spielende Kinder vor Windrädern / © thelamephotographer ( shutterstock )

Kocku von Stuckrad ist Religionswissenschaftler. Als solcher widmet er sich der menschlichen Suche nach Sinn und den tiefen Zusammenhängen allen Lebens. Genau diese stehen für ihn heute zur Disposition, wie er in seinem neuen Buch "Nach der Ausbeutung" darlegt. "Wir stehen vor den Trümmern einer gescheiterten menschlichen Beziehung zur Welt", schreibt er mit Blick auf "eine nie da gewesene Spur der Zerstörung durch alle Lebensformen".

Er beobachtet eine tiefe Umwelttrauer bei vielen Menschen ob der Unterwerfung und Ausbeutung der nichtmenschlichen Mitwelt. Noch immer bestehe das vorherrschende Leitbild der Wissenschaft darin, die Welt möglichst objektiv und emotionslos zu beschreiben. Die Krux: Die gedankliche Trennung von Natur und Kultur ist ein Grundpfeiler des europäischen Weltverständnisses. Was den Autor jedoch hoffen lässt: eine Neuorientierung in den Wissenschaften, die er in seinem Buch beschreibt.

Feines Beziehungsgeflecht

Auch Empfindungen tragen zur Erkenntnis bei Von Stuckrad beobachtet weltweit ein Umdenken, das offen sei für spirituelle Weltbeziehungen und subjektive Faktoren bei der Forschung. Bei der wissenschaftlichen Theroriebildung gebe es eine Verlagerung von der Objektivität zur Intersubjektivität, "von Beobachtung zu Teilhabe und von Isolation zu Relationalität, also einem Beziehungsgeflecht". Dabei hätten auch Empfindungen ihren Platz und trügen zur ganzheitlichen Erkenntnis bei.

In den vergangenen Jahren sei eine breite Bewegung entstanden, die bislang in der Öffentlichkeit nur unzureichend wahrgenommen werde.

Symbolbild Naturschutz / © Tanja Esser (shutterstock)

Der Erkenntnis, dass alles mit allem durch ein feines Beziehungsgeflecht verbunden ist, werde in vielen Wissenschaften zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. Von Stuckrad spricht von einer "relationalen Wende", die einen Paradigmenwechsel einläute. Er sieht in dieser tiefgreifenden Veränderung "eine stille Revolution in den Wissenschaften und den Künsten". Quer durch alle Wissenschaften arbeiteten Forschende an nichts weniger als einem Ende der Trennung von Kultur und Natur.

Aufeinander-verwiesen-Sein

Nicht nur die Geistes-, auch die Naturwissenschaften seien von diesem Umdenken erfasst. Erkenntnisse beider Bereiche wüchsen zusammen, etwa in der Quantenphysik. So gilt in der Quantentheorie die Trennung von Subjekt und Objekt als überholt. Die Biologie entdecke das Aufeinander-verwiesen-Sein.

Von Stuckrad lehrt an der niederländischen Universität Groningen. Um eine ganzheitliche Perspektive und einen anderen Zugang zur Wirklichkeit zu gewinnen, liest er mit den dort Studierenden bewusst auch Gedichte und Literatur. Kunst und Literatur bieten aus seiner Sicht eine ganz eigene Perspektive auf komplexe Zusammenhänge. "Ist das Wissen, das Poesie transportiert, weniger wert als das Wissen in akademischen Texten?", fragt er sich.

Physik meets Romantik

Ob Goethe oder Novalis - Literatur aus der Zeit der Romantik werde zwar als "Hochburg des Irrationalismus, der Naturfrömmelei und einer geradezu peinlichen Emotionalität" gesehen. Dennoch schienen neue Erkenntnisse aus Physik und Biologie einige Positionen der Romantik zu bestätigen; "grundsätzliche Überlegungen zur Dynamik des Lebens auf dem Planeten sind ganz ähnlich".

Auch die Trennung von Materie und Geist verschwimmt demnach immer mehr. Eine Herausforderung für die Fakultäten, ergibt dann doch die bestehende Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften kaum noch Sinn. Universitäten und Hochschulen sind derweil aus der Sicht des Religionswissenschaftlers noch weit entfernt davon, sich im Sinne einer "Entdisziplinierung" neu zu organisieren.

Zugleich sieht er weltweit Initiativen, die sich - allem Widerstand zum Trotz - diesem neuen Denken und Wissenserwerb öffnen und mitweltliche Perspektiven einbeziehen. So reife auch die Vorstellung einer "Mitweltdemokratie", die beispielsweise auch die Interessen von Flüssen und Bergen einbeziehe.

Verankerte Rechtsansprüche der Natur

Als Vordenker dieser "Rights of Nature"-Bewegung nennt er Ecuador, das als erstes Land 2008 die Rechte der Natur in seiner Verfassung verankert hat. Der indische Bundesstaat Uttarakhand hat 2017 die Flüsse Ganges und Yamuna zu Rechtspersonen erklärt. Inzwischen verzeichne die UN-Organisation "Harmony with Nature" über 100 Initiativen in 30 Ländern, die Rechtsansprüche der Natur etablieren möchten. 

Große Steine vor der Fleher Brücke in Düsseldorf am Rheinbogen / © Irene Tissen-Jakuschew (shutterstock)
Große Steine vor der Fleher Brücke in Düsseldorf am Rheinbogen / © Irene Tissen-Jakuschew ( shutterstock )

Die Mitweltperspektive muss aus Sicht des Autors zur Normalität werden; nichtmenschliche Akteure sollten "ganz selbstverständlich ernst genommen" werden. Zugleich räumt von Stuckrad ein, dass dafür eingetretene Pfade verlassen werden und visionäre Vorschläge gemacht werden müssten,"die dem alten Denken einiges zumuten".

Religion, Kunst, Wissenschaften, Wirtschaft, Politik - all dies sind für von Stuckrad "Erzählungen über menschliche Weltbeziehungen". Gesetze, Wirtschaftsordnungen und politische Strukturen seien die Umsetzung dieser Erzählungen. "Deshalb ist es so schwer, diese tief in gesellschaftliche Wirklichkeiten eingegrabenen Erzählungen zu verändern" - und zugleich so wichtig, zu einer grundlegenden Neugestaltung zu kommen.

Als "Geschwurbel" abgetan

Mit seinem Buch möchte er dazu beitragen, dieses neue Wissen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Warum all diese Entwicklungen noch nicht bekannt sind? Einen Grund sieht von Stuckrad in der Schwierigkeit, diese Diskussionen verständlicher zu kommunizieren, wie er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erklärt. Er beobachtet zudem eine Tendenz in den Medien, alles, was holistisch und wissenschaftskritisch erscheine, als "Geschwurbel" auszugrenzen.

Daneben gebe es aber auch wissenschaftsinterne Gründe: allen voran die Zersplitterung der Wissenschaftsfelder. In der Biologie werde wenig Literaturwissenschaft betrieben (und umgekehrt); die Kunstwissenschaft befasse sich nicht mit Quantenphysik. "Das führt dazu, dass Parallelentwicklungen in verschiedenen Feldern nicht als solche wahrgenommen werden, sondern nur die Veränderungen im eigenen Feld." Forschungstraditionen wie Religionswissenschaft und auch Theologie seien dabei "gut aufgestellt, um diese Wahrnehmungen zu schärfen".

Quelle:
KNA