Religionssoziologe sieht Kirchenzugehörigkeit am Kipppunkt

Große Unterschiede in Ost- und Westdeutschland

In der Frage der Zugehörigkeit zu den Kirchen steht Deutschland nach Ansicht des Religionssoziologe Detlef Pollak vor einer Weichenstellung. "Wir befinden uns an einer Art Kipppunkt", sagte der Seniorprofessor in einem Interview.

Eine Frau liest im Gesangsbuch im Gottesdienst / © Simon Koy (KNA)
Eine Frau liest im Gesangsbuch im Gottesdienst / © Simon Koy ( KNA )

"Denn Mehrheitsverhältnisse haben die Tendenz, sich zu verstärken." Und erstmals stellten die konfessionell Gebundenen der beiden großen Kirchen in Deutschland nun nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung.

Religionssoziologe Detlef Pollack (WWU – MünsterVIEW)

Der Seniorprofessor am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster verwies im "Spiegel"-Interview darauf, dass der Anteil von Katholiken und Protestanten unter 50 Prozent gesunken sei. "Solange die beiden großen Kirchen die Mehrheit repräsentierten, hielten viele zur Kirche, ohne das groß zu hinterfragen", sagte er. "Wenn aber heute die Mehrheit nicht länger dazugehört, wird die Mitgliedschaft begründungsbedürftig."

Unterschiede in Ost- und Westdeutschland

Große Unterschiede gebe es in Ost- und Westdeutschland. "Der Westen erreicht den Kipppunkt gerade", erklärte Pollak, "noch immer sind etwa 60 Prozent Mitglied einer der beiden großen Kirchen, im Osten dagegen weniger als 25 Prozent - dort stellen die Konfessionslosen mit rund 70 Prozent klar die Mehrheit."

Mit dieser Entwicklung werde vieles zur Disposition gestellt: die Kirchensteuer, der Religionsunterricht, die Sendezeit im Öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Neben differenzierter, kenntnisreicher Kirchenkritik sei allerdings auch immer öfter "eine ressentimentgeladene und vulgäre Ablehnung des Religiösen" zu hören.

Gottesdienstbesucher / © Julia Steinbrecht (KNA)
Gottesdienstbesucher / © Julia Steinbrecht ( KNA )

"Das ist ein kultureller Erdrutsch, der auch institutionelle Folgen haben wird", sagte Pollak.

Für die Kirchen gebe es jedoch immer wieder kleine Gelegenheitsfenster, betonte er: "In den Augen vieler leisten die Kirchen gute Arbeit, wenn es etwa um die Arbeit mit Behinderten geht oder um Hilfe für Arme und Schwache, um Beerdigungen oder die kirchliche Hilfe bei der Trauerbewältigung." Aber es schwinde "die Möglichkeit, diese große Tradition, den riesigen Bestand an sozialen Konventionen, den Schatz an Lebensweisheit und geistlicher Kommunikation zu bewahren. Da gibt es kein Zurück."

Statistik der Deutschen Bischofskonferenz für 2021

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gehört weniger als die Hälfte der Bundesbürger einer der beiden großen Kirchen an. Die katholische Kirche zählte im vergangenen Jahr 21.645.875 Mitglieder, wie aus der Statistik der Deutschen Bischofskonferenz hervorgeht. Das entspricht rund 26 Prozent der Bevölkerung. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte bereits im März ihre Statistik veröffentlicht. Demnach zählte sie 19,72 Millionen Mitglieder, was einem Anteil von 23,5 Prozent entspricht.

Logo der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) auf einem Schild neben dem Eingang zum Sekretariat der DBK / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Logo der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) auf einem Schild neben dem Eingang zum Sekretariat der DBK / © Elisabeth Schomaker ( KNA )
Quelle:
epd