DOMRADIO.DE: Schwindende Bindungskraft und gesunkenes Vertrauen sind zwei Ergebnisse des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung. Wie gucken Sie denn auf das Ergebnis der Studie?
Prof. Dr. Michael N. Ebertz (Emeritierter Professor für Religionssoziologie in Freiburg): Das ist tatsächlich nichts Neues unter der Sonne. Bestimmte Tendenzen haben sich vielleicht verstärkt, aber das könnten auch Messfehler sein. Ich würde das Ganze etwas entdramatisiert sehen. Es ist ja nur eine Vorausschau des Religionsmonitors, der wird ja 2023 fortgeschrieben.
Erstaunlicherweise geht der Religionsmonitor gar nicht darauf ein, dass die meisten Menschen, die Kirchenmitglied sind, trotz aller Skandale bleiben. Sie treten nicht aus.
Und diejenigen, die Austrittsneigungen haben oder die Austrittswilligen, bleiben nach aller Erfahrung auch drin. Also was sich tatsächlich vollzogen hat, ist, dass das Kirchen-Bindungs-Verhältnis prekär wird. Man denkt darüber nach, man reflektiert. Aber ob man dann schon den Austritt vollzieht, ist doch nochmal ein anderer Schritt.
Man kann sich fragen, was denn noch alles an Vertrauensverlusten in der Kirche passieren soll. Es ist schon so viel passiert. Das Erstaunliche ist eigentlich, dass so viele bleiben.
Also, offensichtlich gibt es noch ein Potenzial an Hoffnung, was mit dieser Kirche verbunden ist und das sollte man auch mal beleuchten.
DOMRADIO.DE: Jedes fünfte Kirchenmitglied hat laut der Studie die feste Absicht geäußert, aus der Kirche auszutreten. Da können wir in den nächsten Monaten weiterhin mit hohen Austrittswellen rechnen, oder?
Ebertz: Nein. Die feste Absicht zu haben, auszutreten heißt noch lange nicht, dass man diesen Austritt auch vollzieht. Das muss man sehr deutlich sagen.
Wir müssen zwischen der Einstellungsebene und der praktischen Vollzugsebene unterscheiden. Da kann noch vieles kommen und man muss bedenken, dass es ganz starke Bindungen gibt, die immer noch da sind und Tabus, aus der Kirche auszutreten. Das wird häufig falsch eingeschätzt.
Das ist die familiale Tradition: Oma war schon in der Kirche, die Eltern sind in der Kirche oder der Vater ist in der Kirche. Wenn ich jetzt aus der Kirche austreten würde, dann würde das vielleicht auch in der Verwandtschaft Nachteile zur Folge haben. Also, es gibt noch andere Momente, zu bleiben. Das ist doch eigentlich das Interessante, dass trotz allem noch so viele bleiben.
DOMRADIO.DE: Ihr Kollege Detlef Pollack aus Münster sieht wenig Spielraum für die Kirchen, an dem Trend etwas zu ändern. Sie aber sehen eher Wachstumspotenzial bei den Kirchen. Wie könnte man das denn ganz praktisch hinbekommen, dass nicht nur Leute bleiben, sondern auch zurückkommen?
Ebertz: Man muss an neues Wachstum denken. Das alte Wachstum lief über die Familien. Die Familien haben die Kinder zur Taufe gebracht und haben sie dann auch im Sinne der Kirche erzogen.
Diese Koalition, diese Koppelung von Kirche und Familie, ist ein Auslaufmodell. So läuft es nicht mehr. Darüber läuft das Wachstum der Kirche nicht mehr, das muss ich sehr deutlich sagen. Da haben wir einen regelrechten Bruch in der bisherigen Tradition.
Aber wenn wir das Ende dieser Nachwuchs-Kirche haben, dann ist doch noch nicht "Ende Gelände". Dann kann die Kirche darüber nachdenken, wie sie ihre Ressourcen, die sie momentan in die Familien steckt, in andere Orte steckt, wo sie für die unterschiedlichen spirituellen Bedürfnisse der Menschen attraktiver wird. Es gibt keinen anderen Ort in dieser Gesellschaft, der die Transzendenz-Offenheit beschreibt und dafür einsteht. Das gibt es nicht. Das ist kein Aldi, das ist kein Edeka, das ist keine Deutsche Bahn. Für eine solche Transzendenz-Öffnung braucht es eine Institution, braucht es Orte.
Und was könnte die Kirche dort leisten? Sie könnte zum Beispiel weitaus stärker neue Orte der Begegnung von Menschen - etwa in Krisensituationen, in kollektiver Trauer oder in persönlicher Trauer, in den Brüchen des Lebens - aufbauen, wo sich die Menschen wechselseitig begegnen und wechselseitig wertschätzen.
In einer grundlegenden christlichen Tradition, nämlich dass die Kirche vor allem für diejenigen Brüder und Schwestern da ist, die Mängel haben, die an irgendetwas leiden, die Kranken, die Armen und so weiter. Und arm und krank sind wir letztlich alle. Nur, das muss man erst mal kapiert haben.
Dann könnte man auch auf die Idee kommen, aus den bisherigen Strukturen raus zu gehen und neue kirchliche Begegnungsorte - ich nenne das spirituelle Tankstellen - aufzubauen. Das heißt natürlich auch, die Leute kommen und kommen unter Umständen nicht wieder. Es kommen andere. Oder sie kommen wieder. Es sind neue Formen der Bindung, die man bedenken muss.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, Kirche muss auch mehr in die Seelsorge, in die Bindung der einzelnen Menschen gehen. Dafür bräuchte man natürlich auch wieder mehr Personal. Im Moment sehen wir das Gegenteil. Pfarreien werden neu strukturiert und ein Pfarrer ist dann für 20.000 Leute zuständig.
Ebertz: Ja, aber dann muss man über neue Formen der personalen Präsenz nachdenken. Es gibt nicht nur Pfarrer, es gibt nicht nur Priester, es gibt auch andere geistliche Menschen. Man muss dann darüber nachdenken, wie andere Menschen, die sich berufen fühlen, für andere da zu sein, auch Zugang zu den kirchlichen Ämtern bekommen.
Wir können jetzt ein "Schwarzer-Peter-Spiel" machen und sagen: "Das geht nicht, weil..." Also, spirituelle Tankstellen aufzubauen geht nicht, weil wir keine Priester mehr haben. Dann muss man halt darüber nachdenken, wie man neue und andere Priester kriegt.
Aber wenn das alles nicht passiert, wenn permanent gesagt wird "das geht aber nicht", dann kommt die Kirche nicht voran. Sie muss sich natürlich schon ändern. Sie kann nicht so bleiben, wie sie ist, das ist ja völlig klar. Aber Wachstum geht nicht ohne Veränderung. Das ist gestaltbar. Die Menschen haben eine Offenheit für Transzendenz-Erfahrungen.
DOMRADIO.DE: Und wie wichtig für dieses Wachstum sind dann geforderte Reformen wie zum Beispiel Aufhebung des Zölibats oder Zugang zu den Weiheämtern für Frauen, damit man an dem Negativtrend etwas ändern könnte?
Ebertz: Wenn es, wie Sie richtig sagen, auch mehr Personal braucht, das vorbildhaft dafür steht, dass es noch etwas mehr gibt als nur Geld und Recht und Straßenverkehr, dann muss die Kirche überlegen, wie sie diesen Menschen einen Zugang verschafft - natürlich den Frauen und natürlich auch den Verheirateten und nicht nur den Zölibatären.
Da ist eine wirkliche Bremse in der Kirche eingebaut, die sie verändern muss. Aber sie könnte sie verändern. Das ist kein göttliches Gesetz, dass keine Frauen Priesterinnen sein dürfen. Es ist kein göttliches Gesetz, dass keine verheirateten Menschen segnen dürfen und Zeit haben dürfen für die anderen, für ihre Sorgen und Nöte.
Da muss sich die Kirche bewegen, sonst kommt sie natürlich nicht auf Wachstumskurs. Das ist ja völlig klar.
Das Interview führte Heike Sicconi.