Ruanda scheint 23 Jahre nach dem Völkermord geeint

Staatlich verordnete Versöhnung - doch Zweifel bleiben

"Ich habe verziehen. Heute sind wir alle Ruander." Sätze, die man häufig hört, wenn man mit Überlebenden des Völkermords von 1994 spricht. Doch sie klingen wie auswendig gelernt.

Autor/in:
Markus Harmann
Pater Philbert in der katholischen Kirche von Kibuye in Ruanda. Im Giebel des Altarraums im Hintergrund ist ein Einschussloch zu sehen. / © Markus Harmann (KNA)
Pater Philbert in der katholischen Kirche von Kibuye in Ruanda. Im Giebel des Altarraums im Hintergrund ist ein Einschussloch zu sehen. / © Markus Harmann ( KNA )

Das Einschussloch im Giebel des Altarraums ist geblieben. Als Handwerker die Wände der Kirche vor zwei Jahren neu verputzten und hellblau strichen, pinselten sie weiträumig um das Loch herum. Wer heute die katholische Kirche von Kibuye im Westen Ruandas betritt, der sieht die Wunde sofort. Sie erinnert an das dunkelste Kapitel der 55-jährigen Geschichte Ruandas: den Völkermord 1994 mit bis zu einer Million Toten, die meisten von ihnen Tutsi. 

Allein in dieser Kirche kamen mehr als 2.000 Menschen ums Leben. "Viele von ihnen waren hierher geflohen, weil sie glaubten, sie seien sicher", sagt Pater Philbert, der die Gemeinde heute leitet - und dafür gesorgt hat, dass das Einschussloch als Mahnmal bleibt.

Mehrere Tage soll das Morden gedauert haben

Tatsächlich waren die Menschen den Hutu-Schergen in der verschlossenen Kirche hilflos ausgeliefert. Mehrere Tage soll das Morden mit Messern, Macheten und Gewehren gedauert haben. Die meisten Opfer liegen heute in Massengräbern neben der Kirche.

Die 34-jährige Drusilla gehört zu den wenigen Überlebenden des Massakers. Ihr Vater und ihre beiden Brüder wurden getötet, als sie aus der Kirche fliehen wollten. Drusilla entkam mit ihrer Mutter und zwei Schwestern. Sie möchte eigentlich nicht über die Zeit vor 23 Jahren sprechen, sagt dann aber doch: "Ich habe verziehen. Heute sind wir alle Ruander."

Erinnerung und Versöhnung

Sätze, die man häufig hört, wenn man mit Überlebenden des Völkermords von 1994 spricht. Sie klingen wie auswendig gelernt. Erinnerung und Versöhnung - das ist die von der Regierung ausgegebene Devise. "Kwibuka 23" steht auf Transparenten an den vielen Gedenkstätten im ganzen Land. Kwibuka bedeutet Erinnerung, in der Landessprache Kinyarwanda. Die 23 signalisiert, wie viele Jahre seit dem Genozid vergangen sind.

"Der Versöhnungsprozess ist stark staatlich verordnet", urteilt die Ruanda-Expertin Gesine Ames, Koordinatorin des Ökumenischen Netzes Zentralafrika (ÖNZ), eines Zusammenschlusses kirchlicher Hilfswerke. Unmittelbar nach dem Völkermord habe das Drängen auf Versöhnung sicher Sinn gemacht. "Aber heute wäre es an der Zeit, die autoritären Strukturen zu lockern und der Gesellschaft mehr demokratischen Handlungsspielraum zu gewähren."

Erinnerung und Versöhnung

Präsident Paul Kagame, der mit seiner Armee 1994 den Völkermord beendete, regiere zunehmend mit harter Hand, so Ames. "Es gibt keine regierungsunabhängigen Medien; und wer es wagt, am eingeschlagenen Weg zu zweifeln, muss mit ernsthaften Konsequenzen rechnen." 2010 verabschiedete die Regierung ein Gesetz gegen Leugnung des Völkermords.

"Wer seither öffentlich von Hutu oder Tutsi spricht, kann dafür sogar ins Gefängnis geschickt werden", so Ames. Oppositionskandidaten hätten vor den Präsidentschaftswahlen am 4. August faktisch keine Chance und würden systematisch diskreditiert. "Ruanda kann dabei auf die internationale Gemeinschaft zählen - denn für sie steht der smarte Kagame 23 Jahre nach dem Völkermord für Stabilität."

"Dieses Land muss nach vorn schauen. Es hat keine Wahl."

Bernadette hat 1994 ihre beiden Söhne verloren. Die heute 65-jährige Stoffhändlerin war unterwegs im Kongo, als am 6. April der Völkermord ausbrach. Die Reise war ihre Rettung. Ihre Söhne wurden ermordet. Nur von einem kennt sie das Grab. Als sie einige Zeit später nach Ruanda zurückkehrte, erfuhr sie, dass die Mörder im Gefängnis waren. Inzwischen sind sie wieder frei und leben unweit von Bernadette in Kibuye. "Sie haben ihre Strafe verbüßt", sagt sie. Was sie denkt, wenn sie ihnen begegnet? "Dieses Land muss nach vorn schauen. Es hat keine Wahl."

Ein Cafe in der Hauptstadt Kigali. Hier trifft sich die obere Mittelschicht. Laetitia Umulisa bestellt eine Maracuja-Schorle. Die 39-Jährige arbeitet für eine Organisation, die im Auftrag der Regierung Aids-Kranke mit Therapien versorgt. Sie sagt, die Erinnerung schmerze.  "Es gibt zwei Ruandas - eines vor und eines nach 1994." Mit ihren Eltern und sechs Geschwistern lebte sie damals unweit des Kiwu-Sees im Nordwesten des Landes. "Ich hatte eine schöne Kindheit."

Die einzigen Überlebenden ihrer Familie

Das Leben der Familie änderte sich im April 1994 abrupt. Ihr Vater, ein Lehrer, stand auf der Todesliste der Hutu-Miliz Interahamwe. Als die ihn töten wollte, floh er mit Laetitia und zwei ihrer Geschwister in Panik über den Kiwu-See in den Kongo. Es dauerte Monate, bis sie sich zurücktrauten. Und es vergingen weitere Wochen, bis sie die Gewissheit hatten, dass sie die einzigen Überlebenden ihrer Familie waren.

Erst vor einem Jahr besuchte sie wieder das Dorf ihrer Kindheit. Anders als ihr Vater weiß sie nicht, wer ihre Mutter und ihre Geschwister umgebracht hat. "Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass die Täter nun wieder Tür an Tür mit Überlebenden wohnen. Dass sie ganz normal einkaufen gehen, die Kirche besuchen", so Laetitia. Versöhnung? "Das gelingt hoffentlich meinen Kindern, aber ich kann nicht vergessen."

Heirat in der Massaker-Kirche

Drusilla, die Überlebende des Massakers von Kibuye, hat vor sechs Jahren den Hutu Innocent geheiratet - in der Kirche, vor der ihr Vater und ihre Brüder starben. Mit Tochter Carine (5) wohnen sie nur zehn Gehminuten entfernt. Ihr Mann Innocent, ein Religionslehrer, sagt, er und seine Frau kämen sonntags immer gern hierher. Die Kirche sei doch ein Zeichen dafür, dass sich die Menschen versöhnt haben.


Ruandische Völkermord-Überlebende Drusilla mit ihrem Ehemann Innocent und Tochter Carine in Kibuye in Ruanda am 2. Juni 2017. Drusilla verlor bei dem Völkermord 1994 einen Teil ihrer Familie und überlebte selbst nur knapp.  / © Markus Harmann (KNA)
Ruandische Völkermord-Überlebende Drusilla mit ihrem Ehemann Innocent und Tochter Carine in Kibuye in Ruanda am 2. Juni 2017. Drusilla verlor bei dem Völkermord 1994 einen Teil ihrer Familie und überlebte selbst nur knapp. / © Markus Harmann ( KNA )

Unterricht vor der katholischen Kirche in Kibuye in Ruanda. Eine Schulklasse sitzt draußen auf der Wiese, der Lehrer unterrichtet.  / © Markus Harmann (KNA)
Unterricht vor der katholischen Kirche in Kibuye in Ruanda. Eine Schulklasse sitzt draußen auf der Wiese, der Lehrer unterrichtet. / © Markus Harmann ( KNA )

Ruandische Völkermord-Überlebende Laetitia Umulisa am 2. Juni 2017 in Kibuye in Ruanda. Die junge Frau verlor bei dem Völkermord 1994 ihre Mutter und vier ihrer sechs Geschwister. / © Markus Harmann (KNA)
Ruandische Völkermord-Überlebende Laetitia Umulisa am 2. Juni 2017 in Kibuye in Ruanda. Die junge Frau verlor bei dem Völkermord 1994 ihre Mutter und vier ihrer sechs Geschwister. / © Markus Harmann ( KNA )

Ruandische Völkermord-Überlebende Bernadette am 2. Juni 20917 in Kibuye in Ruanda. Die 65-jährige Stoffhändlerin verlor beide Söhne. / © Markus Harmann (KNA)
Ruandische Völkermord-Überlebende Bernadette am 2. Juni 20917 in Kibuye in Ruanda. Die 65-jährige Stoffhändlerin verlor beide Söhne. / © Markus Harmann ( KNA )
Quelle:
KNA