DOMRADIO.DE: Bei welchen in Deutschland erhältlichen Produkten besteht die Gefahr, dass sie mit Kinderarbeit produziert worden sind?
Anne Reiner (Fachleitung für nachhaltige Lieferketten bei Save the Children Deutschland): Das ist eine gute Frage und leider auch direkt schon eine der schwierigsten. Wir können das tatsächlich bei keinem unserer Produkte, wie wir sie im Supermarkt kaufen, ausschließen.
Unsere neue Studie hat jetzt nachgewiesen, dass Kinderarbeit in allen Lieferketten und in allen Ländern, in denen Dinge entweder im produzierenden Sektor zusammengeschraubt werden oder im landwirtschaftlichen Sektor gearbeitet wird, vorkommt.
Es kommt nicht mehr flächendeckend in den Fabriken vor, wenn wir uns zum Beispiel eine Textilfabrik in Asien vorstellen. Aber es sieht ganz anders aus, wenn wir in die kleineren Betriebe schauen, die für diese Fabrik Produktionsschritte übernehmen.
Die Jeans wird vielleicht nicht vom Kind zusammengenäht. Es kann jedoch vorkommen, dass sie von einem Kind in dem kleinen Betrieb um die Ecke gewaschen wird, bevor sie zu uns ins Geschäft kommt.
Insbesondere auf den Stufen, auf denen Rohstoffe an- und abgebaut werden, also im landwirtschaftlichen Sektor um Kaffee, Kakao oder Baumwolle, herrscht nach wie vor wahnsinnig viel Kinderarbeit. Genauso auch im Bergbau, beispielsweise im Abbau von Kobalt, wie es in unseren E-Autos vorkommt.
DOMRADIO.DE: Wie unterschiedlich kann Kinderarbeit aussehen?
Reiner: Es gibt eine große Bandbreite. Am allerwichtigsten ist, dass wir uns immer in den Kopf rufen, dass wir nicht über Situationen sprechen, als man selber mit zwölf Jahren die Straße fegen musste.
Wir sprechen hier vielmehr über zwei Bereiche. Das eine sind schulpflichtige Kinder, die unterhalb des erlaubten Alters tätig sind. Wir sehen gerade in der Landwirtschaft und im Bergbau Kinder, die sieben Jahre alt sind und jeden Tag acht Stunden lang Aprikosen pflücken und dann einen Monat später Haselnüsse oder Rosen pflücken, je nach Erntesaison.
Der andere große Bereich, der legal auch als Kinderarbeit zu klassifizieren ist, sind jugendliche Arbeitnehmerinnen. Junge Menschen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren dürfen arbeiten, sind nach dem Gesetz aber noch Kinder.
Wenn für diese jungen Menschen gefährliche Bedingungen wie Nachtschichten oder zu viele Tage Arbeit am Stück herrschen, dann zählt das auch als Kinderarbeit. Diese jungen Menschen müssen bei ihrem Aufwachsen eigentlich auch noch unterstützt werden.
DOMRADIO.DE: Kann man davon ausgehen, dass es in Deutschland keine Kinderarbeit gibt?
Reiner: Das zu beweisen, ist immer schwierig. Das Risiko ist in westlichen Staaten sehr gering. Corona hat gezeigt, dass es in Bereichen wie der Landwirtschaft, wo viel Wanderarbeiterschaft besteht, immer Risiken für Kinderarbeit besteht.
Das kommt bei uns in Deutschland weniger vor. Wenn wir in südlichere Länder gucken, kann das durchaus öfter der Fall sein. Aber der große Schwerpunkt liegt sicherlich in Südamerika, in Afrika und in Asien.
DOMRADIO.DE: Was kann man als Konsumentin und Konsument tun, um Kinderarbeit nicht zu unterstützen?
Reiner: Ich persönlich finde ja immer, dass der erste Schritt eine gewisse Konsumkritik sein muss. Wir sollten uns genau überlegen, ob es nach zwei Jahren das neue Handy sein muss, wenn eigentlich das alte Handy noch das tut, was es tun soll.
Im nächsten Schritt sollten wir den Unternehmen, bei denen wir kaufen, kritischer auf die Finger schauen. Viele Unternehmen kommunizieren offen darüber. Anhand dessen kann man feststellen, ob sie sich dem Thema stellen und ob sie einen verantwortungsvollen Umgang mit Kindern anstreben, die in ihren Lieferketten arbeiten. Andere Unternehmen verneinen Kinderarbeit in ihren Betrieben, weil sie es per Vertrag verboten haben.
Der nächste Schritt wäre sicherlich auch, die Kaufentscheidung entsprechend zu treffen und umzusetzen, weil Unternehmen nach ihren Konsumentinnen und Konsumenten reagieren. Das heißt, je mehr wir nachhaltige Produkte einfordern, umso mehr wird das auch umgesetzt.
Als letzten Schritt freuen wir uns und sprechen uns dafür aus, dass die Bevölkerung mehr Forderungen in Richtung der Politik stellt. Es sollte mehr Geld in die weltweite Entwicklungszusammenarbeit fließen, Grundursachen für Kinderarbeit zu bekämpfen und um noch strengere Gesetzgebungen für Unternehmen und ihre Geschäftspraktiken zu setzen.
DOMRADIO.DE: Hat sich die Kinderarbeit reduziert?
Reiner: Nein, leider nicht. Das ist sehr erschreckend. Die letzten Zahlen, die wir global vorliegen haben, sind von 2020 und wir sprechen jetzt von 160 Millionen Kindern, die weltweit in Kinderarbeit stecken.
Das wichtige daran ist, dass diese Zahlen schon angestiegen waren, bevor Corona kam. Neue weltweit erhobene Zahlen gibt es noch nicht.
Aber allen Schätzungen nach sind weltweit Millionen von Familien aufgrund der Pandemie und ihrer Auswirkungen in die Armut abgerutscht. Da Armut eine der Hauptursachen von Kinderarbeit ist, gehen wir sehr stark davon aus, dass die Zahlen noch viel höher liegen.
Die eigentliche Antwort ist: Nein, wir sind nicht auf einem guten Weg. Es gibt aber trotzdem Bereiche, in denen wir Verbesserungen sehen.
Es gibt einige Unternehmen, die ihr Geschäftsmodell verändern, ernsthaft hinschauen und sich auf den richtigen Weg machen. Wir sehen auch eine vermehrte Nachfrage in der Gesellschaft.
Gute Zeichen sind außerdem die mediale Berichterstattung und Gesetzgebungen wie das deutsche Lieferkettengesetz. Die anstehende Regulierung auf EU-Ebene ist mit Sicherheit auch ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.