DOMRADIO.DE: Nach dem Attentat von Solingen durch einen Täter, der höchstwahrscheinlich ein IS-Terrorist war, ist die Stimmung in unserem Land gerade vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen enorm aufgeheizt. Welche Rolle sollten Christen und Kirchen in dieser aufgewühlten Situation einnehmen?
Annette Schavan (Politikerin, Theologin, Autorin des Buchs: "Pfingsten. Warum wir auf das Christentum nicht verzichten werden"): Kirchen, Christinnen und Christen, das Christentum insgesamt ist vor allem eine Kraft der Versöhnung, eine Kraft, die zur Klarheit auffordert, eine Kraft, die Raum schafft.
Jetzt ganz konkret in Solingen, für die Trauer, für das Gespräch: Es ist schrecklich, was geschehen ist. Viele Menschen sind verunsichert und zugleich gilt - das ist auch die Rolle von Christinnen und Christen - deutlich zu machen, eine Wahl eignet sich nicht für Denkzettel. Eine Wahl eignet sich nicht dafür, im Überschwang der Gefühle jene zu unterstützen, die von der Demokratie nichts halten, die auch keine politische Perspektive beschreiben können, sondern genau darauf setzen, dass wir im Überschwang der Gefühle Denkzettel verteilen.
DOMRADIO.DE: Sie sprechen da sicher auch von der AfD. Nun gibt es in dieser aufgeheizten Atmosphäre alle möglichen Vorschläge. Der eine Vorschlag ist, aus Afghanistan und Syrien keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen. Das ist schon sehr gewagt, die Menschen aus den beiden Ländern in Sippenhaft zu nehmen, oder?
Schavan: Politische Erfahrung lehrt, dass es in jeder Situation, vor allem aber, wenn es so schwierig ist, wie wir das gerade erleben, wichtig ist, dass die Demokraten zusammenarbeiten, dass sie ihre Schnittmengen finden und dass Vorschläge gemacht werden, die auch realisiert werden können.
Politik ist keine akademische Veranstaltung. Politik lebt davon, dass die Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen haben können, das, was gesagt wird, wird auch getan. Das scheint mir in dieser Situation auch wichtig zu sein. Es ist gut, dass sich der Bundeskanzler und der Oppositionsführer zusammengesetzt haben. Es ist gut, wenn sie das Zeichen setzen: Wir haben einen gemeinsamen Plan.
DOMRADIO.DE: Nun ist es gerade im Osten Deutschlands so, dass die katholische Kirche kaum noch eine Relevanz hat. Wie kann sie sich dort überhaupt noch verständlich machen, wenn die Grundvoraussetzungen des Glaubensvollzugs und das Glaubenswissen fehlen?
Schavan: Die Kirchen in Deutschland, ob evangelisch oder katholisch, haben auf der einen Seite enorm viele Ressourcen und damit verbunden auch Möglichkeiten, kulturell zu gestalten. Auf der anderen Seite sprechen wir viel vom Niedergang. Wir beschäftigen uns jedes Jahr mit den Austrittszahlen.
Meine Überzeugung ist, wir müssen uns mehr auf die Aufbrüche konzentrieren, die gibt es auch in Ostdeutschland. Mitten in Magdeburg ist das Kloster der Prämonstratenser entstanden. Mitten in Brandenburg sind junge Mönche gekommen und bauen dort auf.
Konzentrieren wir uns stärker auf die Aufbrüche, die es auch gibt. Konzentrieren wir uns auf kraftvolle Orte, an denen Menschen spüren, hier ist ein Glaube. Hier ist eine Spiritualität, die uns einen sehr viel schärferen Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht als ohne Religion.
DOMRADIO.DE: Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass die Sprache in den Kathedralen nicht mehr verstanden wird, dass, wer Kunstwerke studiert, heute eine Einführung benötigt. Denn große Werke der Kunstgeschichte können heute nicht mehr entziffert werden. Das heißt, die Bedeutung des Christentums verschwindet rasant?
Schavan: Das ist so in Deutschland, das ist auch so in Europa. Aber ein Drittel der Weltbevölkerung gehört zum Christentum, sind Christinnen und Christen. Deshalb ja, wir brauchen heute, wenn jemand Kunstgeschichte studiert, Einführungskurse. Es ist vieles nicht mehr selbstverständlich.
Hans Joas (deutscher Soziologe) hat gesagt, Glaube ist eine Option, es ist eine Möglichkeit. Also ist die Aufgabe in den Gemeinden, an den Orten des Glaubens, nicht einfach zu werben, sondern Wege zu finden, wie Herzen und der Intellekt von Menschen wieder erreicht wird. Es ist eine Option.
Niemand wächst mehr so selbstverständlich hinein wie ich als Rheinländerin in den 50er oder 60er Jahren hier im Großraum Neuss/Köln. Es muss geworben werden. Das heißt natürlich auch, manches, das nie tragfähig war, wird verschwinden. Vieles von dem, was für uns einmal selbstverständlich war, ist schon längst verschwunden.
Papst Franziskus sagt es so, geht raus aus den Kathedralen, geht an die Peripherien. Das ist meine tiefe Überzeugung. Es werden die Peripherien sein in unserem eigenen Leben, aber auch in den Städten und Gemeinden, da, wo die Einsamkeit, die Armut, die Verlassenheit besonders groß ist. Da besteht die Chance, dass wir unseren Glauben neu verstehen.
DOMRADIO.DE: Verschweigen dürfen wir auch nicht, dass es in Deutschland noch ein riesengroßes anderes Problem gibt. Stichwort Missbrauchsskandal, dazu in der katholischen Kirche, Frauenfeindlichkeit, Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, Machtmissbrauch, begünstigt durch streng hierarchische Strukturen. Wie soll die Kirche da noch als moralische Instanz glaubhaft sein?
Schavan: Die Kirche schreibt Heils- und Unheils-Geschichte. Das zieht sich durch die Kirchengeschichte, durch die Geschichte des Christentums. Heute wissen wir, wie eine Institution, die sich gegenüber dem Menschen als besondere Moralinstitution immer gegeben hat, viele Ansprüche an ihre Mitglieder stellt, selbst ihren Ansprüchen nicht gerecht geworden ist.
Das alles, was sie nennen, ist Verrat am Evangelium, so muss er auch benannt werden. Es muss deutlich werden, es darf nicht noch mehr Verrat geben, sondern es ist die Stunde, sich aus den Kathedralen und all dem, was uns wunderbar gut gefällt, hinaus zu bewegen, dahin, wo die Verzweiflung am größten ist.
DOMRADIO.DE: Kommen wir noch mal auf unsere Demokratie zu sprechen. Die Demokratie ist in der Krise. Welche Rolle können da die Kirchen spielen? Braucht Demokratie Religion?
Schavan: Davon bin ich überzeugt, überhaupt gibt es einen wichtigen Zusammenhang zwischen Religion und Politik. Wir haben viele negative Beispiele, wie Religion versucht, Politik zu vereinnahmen, wie Religion mit einbezogen ist in Geschichten der Gewalt, die im Namen von Religion und Religion vereinnahmend, verübt werden.
Das andere - denken Sie an die Geschichte unseres Grundgesetzes, das 75 Jahre her ist - die katholische Soziallehre, die evangelische Sozialethik hat eine große Rolle gespielt. Prinzipien, ordnende Gedanken, der Vorrang der Personalität, die Subsidiarität, das war eine wichtige Phase. Das gehört zu unserem Gemeinwesen dazu.
Wer heute über das Grundgesetz spricht, muss über die Sozialprinzipien sprechen, muss über das, was das Christentum auszeichnet, sprechen. Eine neue Sicht auf den Menschen. Der Mensch nicht mehr in Abhängigkeit von den Göttern, sondern erlöst durch den menschgewordenen Gott.
Diese neue Sicht auf den Menschen, Menschen so zu sehen, dass ich ihre Würde anerkenne, die unabdingbare oder die sozusagen unverwirkbare Würde eines jeden Menschen zu achten, jenseits von Rolle, von Leistung, von allem Möglichen, was im Leben eine Rolle spielen kann, aber nicht unseren Blick auf den Menschen bestimmen darf. Ich finde, in Zeiten mit so viel Instrumentalisierung von Menschen, mit so viel Leid, Krieg, Gewalt, Menschenhandel ist das die innovativste Idee, die wir uns auch heute vorstellen können.
DOMRADIO.DE: Als Frau, die viele Jahre aktiv in hohen Ämtern der Politik tätig war, beobachten Sie sicher aufmerksam das politische Geschehen, die Entwicklung in unserer Gesellschaft. Wie schauen Sie zum Beispiel auf Thüringen und Sachsen und die politische Zukunft der beiden Bundesländer?
Schavan: Ich hoffe, dass am kommenden Sonntag die Demokratinnen und Demokraten in Thüringen und in Sachsen wirklich stark sind und wir vielleicht noch alle überrascht werden, dass es doch eine starke demokratische Bewegung auch in beiden Ländern gibt, mit unglaublich vielen engagierten Menschen, die gute Demokraten und Demokratinnen sind. Das ist die Hoffnung. Wie es dann werden wird, wird sich zeigen.
Ich wünsche denen, die da jetzt im Wahlkampf sind, dass sie sie überzeugen können. Noch einmal, der entscheidende Satz ist, eine Wahl ist ein hohes Gut und komplett ungeeignet für Denkzettel.
Das Interview führte Johannes Schröer.