Einfach waren die Staatsbesuche eines griechischen Regierungschefs im Nachbarland Türkei noch nie. Seit eh und je sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern angespannt, seit Gründung der türkischen Republik 1923 wurden sie immer wieder von Krisen am Rand eines bewaffneten Konflikts erschüttert. So gesehen konnte Alexis Tsipras am Dienstag sogar relativ unbeschwert nach Istanbul reisen.
Die Liste der zu behandelnden Themen ist trotzdem lang, und manche sind Dauerstreitpunkte. Neben der Ausbeutung von Bodenschätzen, Flüchtlingen und Hoheitsrechten in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer wird es auch um ein religiöses Thema gehen: das Priesterseminar auf der türkischen Insel Heybeli, auf Griechisch Chalki.
Erster Besuch auf der Insel seit 1933
Tsipras wird am Mittwochmorgen zunächst die Hagia Sophia besuchen - einst größte Kirche der Christenheit, dann Moschee, dann Museum - und anschließend den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I., Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie, im Istanbuler Stadtteil Phanar treffen. Gemeinsam wollen sie dann zum Priesterseminar Chalki reisen. Es ist der erste Besuch eines griechischen Ministerpräsidenten seit 1933 auf der Insel im Marmara-Meer.
Das Priesterseminar von Chalki auf der Prinzeninsel Heybeli bei Istanbul war seit 1844 der wichtigste Ausbildungsort für orthodoxe Geistliche. 1971 schloss die türkische Regierung die Lehrstätte. Als offizielle Begründung hieß es, private Universitäten seien illegal. Wer die Räume heute betritt, findet sie quasi unverändert vor. Gebäude und Garten werden nach wie vor instand gehalten. Seit 48 Jahren hofft man dort auf eine baldige Wiedereröffnung.
Denn die Situation bringt die inzwischen auf knapp 2.000 Mitglieder geschrumpfte Gemeinde der griechisch-orthodoxen Christen zunehmend in Bedrängnis. Der Patriarch muss laut türkischem Gesetz in der Türkei geboren sein. Da durch die Schließung des Seminars auf der Prinzeninsel aber keine Priester mehr im Land ausgebildet werden können, geht der Gemeinde langsam der Nachwuchs aus. Zusätzlich verkompliziert wird die Situation, weil der Patriarch von Istanbul neben seiner Funktion innerhalb seiner Gemeinde auch das Oberhaupt aller orthodoxen Christen weltweit ist - was Ankara wiederum nicht anerkennt.
Teil der Beitrittsverhandlungen zur EU
Dass das Thema eine schnelle Lösung findet, ist unwahrscheinlich. Seit Jahren sind internationale Appelle, das Seminar wieder zu öffnen, fruchtlos geblieben. Die Wiedereröffnung des Priesterseminars war bisher auch Teil der Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU. Dies sei eine Sache der Religionsfreiheit und der Minderheitenrechte, hieß es von deren Seite. Die Tatsache, dass ein Beitritt des islamischen Landes zur Union weiter weg erscheint denn je, bietet ebenfalls wenig Grund zum Optimismus in der Causa Chalki.
2013 wurden immerhin die 190 Hektar Land des Seminars an die Stiftung des Klosters zurückgegeben. Die Türkei wiederum verweist auf die Lage der muslimischen Minderheit in Griechenland. Über 200.000 Moslems mussten jahrelang ohne eine Moschee auskommen. Durch muslimische Flüchtlinge ist deren Zahl weiter angewachsen.
Die Moschee aber wurde nach zähem Widerstand nationalkonservativer Kreise in Griechenland im April 2017 fertiggestellt. Dass jedoch Athen türkische Soldaten, die in der Putschnacht im Juli 2016 nach Griechenland geflohen waren, nicht ausliefert, bietet Ankara ebenfalls einen Grund, das Priesterseminar zunächst nicht wiederzueröffnen.
Noch etwa 1.700 Griechen in Istanbul
Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1923 kam es zu einem großen Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, von dem die Istanbuler Griechen zunächst ausgenommen waren. Nach einem Pogrom 1955, das maßgeblich von der damaligen Regierung angezettelt wurde, verließen mehr als 100.000 Griechen die Stadt. Heute leben noch etwa 1.700 Griechen in Istanbul. Aber auch wenn die Gemeinde auf einen Bruchteil zusammengeschmolzen ist, bleibt die Hoffnung auf ein eigenes Priesterseminar sehr lebendig.
Von Philipp Mattheis