Schriftsteller Michael Krüger spricht über Erinnerungen

Gegen das Geschrei auf der Straße hilft die Ruhe in den Kirchen

Als 'getarnter Mystiker' wurde er bezeichnet: Der Dichter und langjährige Leiter des Hanser Verlags Michael Krüger. Im DOMRADIO.DE-Interview spricht er kurz vor seinem 80. Geburtstag über seine Erinnerungen.

Autor/in:
Johannes Schröer
 (DR)

"Nichts ist schöner, als in Rom durch die Kirchen zu laufen“, sagt Michael Krüger, "das Geschrei auf den Straßen dort und die Ruhe in den Kirchen, das Laute und das Schweigen, welch wohltuender Gegensatz". Der Schriftsteller, Dichter und langjährige Leiter des Hanser Verlags feiert am 9. Dezember seinen 80. Geburtstag. Vor seinem Besuch im DOMRADIO.DE-Studio sei er auch im Kölner Dom eingekehrt. Dort habe er sich mit den Heiligen über die Weltlage unterhalten, erzählt er. "Manchmal antworten sie, manchmal haben sie etwas anderes zu tun".

Das Pulverfass im Nahen Osten brennt

Die Weltlage beunruhigt ihn zurzeit sehr, sagt er. "Wenn ich heute in Berlin auf der Straße erlebe, dass junge Leute antisemitische Parolen grölen, dann wird mir ganz übel". 1943 ist Krüger geboren. Nie habe er sich vorstellen können, dass auf einer Berliner Straße, wo 1943 die letzten Juden weggetrieben wurden, jetzt 'Juda verrecke' gerufen werde. Die Lage im Nahen Osten beunruhigt ihn sehr. "Das Pulverfass brennt dort", sagt Krüger. "Man muss eine Verständigung mit der arabischen Seite wollen, man es wollen", betont er.

Der Krieg in der Ukraine ist eine Demütigung

Bitter findet er, dass alle Vorstellungen, die in seiner Generation wichtig gewesen seien, jetzt zusammenbrechen. "Mir scheint es, dass der Fortschritt zu schnell fortgeschritten ist", sagt Krüger. "Wir sehen, dass die Menschen Schwierigkeiten haben, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Und aus den Schwierigkeiten blühen neue Schwierigkeiten auf". Die Sicherheit, auf der Welt zu sein, gehe verloren. Den Krieg in der Ukraine, in Europa bezeichnet er als Demütigung.

Dichtung und Religion stehen in einer engen Beziehung

Es gebe einen engen Zusammenhang zwischen religiösen und dichterischen Vorstellungen, ist der langjährige Verleger des Hanser Verlags überzeugt. In seinen soeben erschienenen Erinnerungen 'Verabredung mit Dichtern' blickt Krüger auch zurück auf seine Kindheit und Jugend. Im DOMRADIO.DE-Interview erzählt er von seinen ersten Lebensjahren in Sachsen-Anhalt, bevor die Familie nach Berlin geflohen ist. Mit seinem Großvater sei er durch Wälder und über Felder gelaufen. "Das waren ganz große, praktische Erfahrungen in der Natur". 

Die Bäume werden uns alle überleben

Neben der Bibel habe es nur ein anderes Buch im Haus seiner Großeltern gegeben: ein Pflanzenbestimmungsbuch. "Die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten in diesem Buch hat in mir die Lust geweckt, mich mit Sprache zu beschäftigen," sagt der Schriftsteller. Während der Coronazeit erkrankte Krüger lebensbedrohlich an Leukämie und musste sich isolieren. Er lebte allein in einem Holzhaus in der Natur und habe ein intensives Verhältnis zu den Bäumen entwickelt: "Die Bäume werden uns alle überleben", sagt er, "also muss man sich ihnen gegenüber pfleglich verhalten."

Einmal am Tag nach innen schauen

Als er in einer Laudatio einmal ein 'getarnter Mystiker' genannt wurde, habe er zustimmend genickt. "Was uns am Leben hält, die Seele, davon sehen wir nie etwas", sagt er, "das spüren wir nur, die Mystik erspürt das". Mystik sei etwas, wo nicht aufgerechnet wird, der Schuldige, der Nichtschuldige, der Heilige, der Nichtheilige. Diese Oppositionen gebe es in der Mystik nicht, die Mystik gehe in die Versenkung. Krüger empfiehlt allen Menschen, sich jeden Tag etwas Zeit zu nehmen, um nach Innen zu schauen. "Wir sind alle keine Heiligen, wir leben auch nicht auf einer Säule in der Wüste oder sind indische Fakire, aber es ist doch gut, wenn man einmal am Tag diese Stunde hat, um in sich hineinzuhorchen."

Quelle:
DR