DOMRADIO.DE: Sie haben als Mädchen und Jugendliche eine Heimkarriere hinter sich, in der Sie Ihre vorwiegend linken Betreuerinnen und Betreuer mit Kirchgängern aus der Fassung gebracht haben. Erzählen Sie mal!
Mirjiam Günter (Schrifstellerin und Publizistin): Als ich festgestellt habe, dass ich die damit ärgern kann, dass ich in die Kirche gehe, bin ich natürlich noch häufiger gegangen. Es gehörte zum pädagogischen Konzept, dass ich im ländlichen Raum untergebracht wurde, ich war nämlich sehr schwierig. Und als Jugendliche mussten die mich halt immer fahren und das hat die zur Weißglut gebracht. Die mussten draußen im Auto warten, weil sich das nicht gelohnt hätte, wieder zurückzufahren. Und so bin ich meistens so zwei Stunden oder so in der Kirche geblieben, obwohl die Messe schon längst aus war.
DOMRADIO.DE: In welche Kirche haben die Sie denn gefahren?
Günther: Die katholischen Kirchen der Umgebung.
DOMRADIO.DE: Aber Sie haben das ja nicht nur getan, um diese Betreuer und Betreuerinnen zu ärgern. Es war Ihnen ja auch schon ein inneres Bedürfnis?
Günther: Es war der einzige Ort, wo es ruhig war. Wo man so eine gewisse Geborgenheit gefunden hat. Wenn das Leben so turbulent ist, dann setzt man sich in die Kirche und wird ruhig.
DOMRADIO.DE: Das könnte man theoretisch auch im Wald machen...
Günther: Nee, da kommt ja ziemlich viel zusammen. Da sind diese Kerzen, es sind die ganzen Rituale. Man wird halt so ruhig, finde ich. Ich finde es auch nicht langweilig. Da kann man einfach ein bisschen runterkommen. Im Wald ist es ja auch manchmal kalt.
DOMRADIO.DE: In der Kirche kann es auch kalt sein.
Günther: Mir nicht.
DOMRADIO.DE: Sie sind auch im Kloster Himmerod des Öfteren gewesen. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?
Günther: Das Kloster Himmerod habe ich auch in meiner krassen Jugend kennengelernt und das ist mir dann ein Stück Heimat über viele, viele Jahre Heimat geworden. Ich habe das auch, als das Kloster dann selber in Turbulenzen gekommen ist, über Jahre unterstützt ehrenamtlich, indem ich das Gästehaus da geschmissen habe. Das hat leider nichts genutzt, das ist ja aufgegeben worden. Da ist auch so ein Stück Heimat verlorengegangen. Aber das habe ich sehr genossen während meiner Aufenthalte dort.
DOMRADIO.DE: Manchmal heißt es, das Evangelium komme schon mal auf zwei Beinen daher. Sind Ihnen denn da auch Menschen begegnet, die Sie geprägt und gestützt haben?
Günther: Ich bin sozialisiert durch die katholische Kirche, durch Menschen, die mir da begegnet sind und durch Kommunisten. Das ist eine sehr wahnsinnige Mischung, aber es hat mir, glaube ich, beigebracht, was Solidarität bedeutet, was es heißt, den Schwächsten zu helfen. Das haben mir beide Gruppierungen eigentlich beigebracht.
DOMRADIO.DE: Sie nennen sich ein Heimkind, sprechen von einer krassen Jugend. Und Sie erfahren von Missbrauchsfällen aus katholischen Heimen. Straftaten begangen durch Priester. Und Sie sagen: Ich bleibe der katholischen Kirche treu. Wie geht das zusammen?
Günther: Ich weiß, dass in meinem Verein total viel Mist passiert, aber ich sage es so: Mir persönlich hat dieser Verein sehr geholfen. Ich würde nicht dastehen, wo ich stehe, wenn es die katholische Kirche in meinem Leben nicht gegeben hätte. Und ich prangere ja auch den Mist an, der passiert. Aber ich sage halt auch, ich bleib drin, weil es mir halt Kraft gab und gibt.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, die Kirche ist der einzige Ort, an dem ich nie Opfer von Rassismus geworden bin. Passiert das ansonsten öfter?
Günther: Ständig passiert das, dass man irgendwie angefeindet wird, dass man rassistische Bemerkungen sich anhören muss, dass einem Ladendetektive hinterherlaufen. Und zwar nur mir und nicht meinen weißen Freunden. Das ist halt gang und gäbe.
DOMRADIO.DE: Es gab da mal so einen Vorfall, bei dem Sie fälschlich des Fahrraddiebstahls bezichtigt worden sind. Da hat eine 13-Jährige ausgesagt, dass sie eine Frau "Typ Zigeuner" beobachtet habe. Und dann hat die Polizei Sie festgenommen. Wie kommt hier wieder die Kirche ins Spiel?
Günther: Sie haben mich auf die Erde geschmissen, mich in Handschellen gepackt. Die Beamtin hat mich die ganze Zeit beleidigt und dann haben sie mir das Handy weggerissen. Und dann wollten sie in meine Wohnung. Und ich habe gesagt, ich sie bräuchten dafür einen richterlichen Beschluss. Dann hat sie mir den Schlüssel aus der Hand gerissen und meinte, solchen Typen wie uns glaube doch eh keiner. Mich hat das total fertig gemacht und ich habe dann den Pfarrer Dominik Meiering angeschrieben und gefragt, ob er mal Zeit habe. Ja, hatte er. Dann haben wir uns mal irgendwo draußen hingesetzt und dann habe ich ihm das alles erzählt.
Da war er ein bisschen geschockt, glaube ich. Der findet halt ganz cool, was ich so mache mit meinen Literaturwerkstätten für die benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Bundesrepublik. Und er findet auch gut, wie ich schreibe. Und dann hat er gesagt, wenn er mir irgendwie helfen könne, solle ich einfach Bescheid sagen. Ich meinte, die Hauptsache wäre, wenn er einfach für mich da wäre. War er dann auch. Ich habe ihm irgendwann mal einen Zettel geschickt mit den Anwaltskosten. Und da meinte er, es sei ihm eine Herzensangelegenheit, das zu übernehmen. Und das hat er dann auch gemacht.
DOMRADIO.DE: Sie haben gerade diese Literaturwerkstatt erwähnt, das sind Projekte, bei denen Sie zumeist mit Jugendlichen, Schülern oder Straftätern lyrische Texte oder auch Romane lesen. Wenn Sie das machen, haben Sie da auch Ihren Glauben im Gepäck dabei?
Günther: Als ich meinen Literaturpreis bekommen habe und für meinen ersten Roman und dann an meinem zweiten Roman gesessen habe, dachte ich: "Oh Gott, das ist jetzt sein Leben? Sitzt da im Kämmerchen und schreibst irgendwelche Geschichten. Und ich konnte mir das irgendwie nicht vorstellen, dass ich jetzt irgendwie nur noch in diese Bildungsbürgerwelt fahre und denen fiktive Horrorgeschichten aus dem Leben vorlese. Und als ich so da saß und nachdachte, ob das mein Leben ist, rief mich der katholische Priester aus der damaligen Jugendhaftanstalt in Siegburg an. Er fragte mich, ob ich nicht dort die Literaturwerkstatt machen wolle. Seitdem mache ich das.
Wenn er nicht gewesen wäre, ich wüsste nicht, was ich jetzt machen würde. Ich hätte niemals das Talent entdeckt, dass ich doch zu denen hingehen kann, denen es nicht gut geht. Dass ich denen sagen kann: Hey, guckt mich an, ich komme auch von da unten. Ich habe es gepackt und ihr könnt es auch packen. Glaubt einfach an euch!
Das Interview führte Uta Vorbrodt.