Ein kleines Kärtchen mit großer Wirkung: So beschreiben Expertinnen den Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung. Es ist ein kartoniertes Faltblatt, kleiner als ein Pass, größer als ein Personalausweis, in dem steht, dass dieser folgenschwere Eingriff in Deutschland verboten ist und mit Haft und Kindesentzug bestraft werden kann. Eltern sollen das Kärtchen mitführen, wenn sie mit ihren Töchtern zu ihren Familien in der alten Heimat reisen - um sie vor einer Genitalverstümmelung zu schützen, so die Idee.
"Manchmal stehen Eltern unter einem enormen sozialen Druck, ihre Töchter in der Heimat beschneiden zu lassen, weil das dort dazugehört", erläutert die Expertin für weibliche Genitalverstümmelung von "Terre des Femmes", Idah Nabateregga. Der Schutzbrief gebe Argumentationshilfe, weil er die Konsequenzen für die Familie in Deutschland verdeutliche, wo der Eingriff seit 2013 verboten ist, auch wenn er im Ausland erfolgt.
Schätzungen: Rund 70.200 Frauen in Deutschland sind beschnitten
"Denn niemand will, dass das Kind der Familie weggenommen wird oder dass jemand ins Gefängnis muss." Auch Konsequenzen für den Aufenthaltsstatus wolle niemand riskieren, schon allein, weil die Herkunftsfamilie oftmals auf die finanzielle Hilfe der Angehörigen in Deutschland angewiesen ist. "Es macht einen Unterschied, ob man etwas Schriftliches in der Hand zum Beweis hat oder nicht."
Laut Schätzungen von "Terre des Femmes" leben in Deutschland etwa 70.200 Frauen, die beschnitten sind. Um die 17.700 minderjährige Mädchen sind in Gefahr, Opfer dieses Eingriffs mit möglichen gravierenden gesundheitlichen und seelischen Folgen zu werden. Der Schutzbrief, den es in anderen Ländern wie Großbritannien oder den Niederlanden bereits gibt, soll dazu beitragen, sie davor zu bewahren.
Forderung nach bundesweitem Schutzbrief
Doch das Ganze hat einen Haken: In Deutschland gibt es die Taschenkarte bisher nur in Hamburg und Thüringen. "Wir fordern seit Jahren einen bundesweiten Schutzbrief", sagt Nabateregga. "Denn strenggenommen sind so nur die Mädchen geschützt, die in Hamburg oder Thüringen leben", auch wenn sie in Berlin die Hamburger Ausgabe nutzten.
Die Länder haben im Oktober die Bundesregierung aufgerufen, einen bundesweit einheitlichen Schutzbrief zu erstellen. Doch bisher ist nichts passiert. Ein Sprecher des Familienministeriums, das bei dem Thema federführend ist, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), die Bundesregierung plane den Schutz vor weiblicher Genitalverstümmelung weiterzuentwickeln. Aber ob eine Maßnahme ein bundesweiter Schutzbrief sein könne, werde noch geprüft. "Das ist empörend", kommentiert Nabateregga.
"Auf reges Interesse gestoßen"
Hamburg führte das Informationsblatt auf Initiative der Sozialpädagogin Gwladys Awo vor einem Jahr ein. "Der Schutzbrief ist auf reges Interesse gestoßen", sagte der Sprecher der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, Martin Helfrich. Bis vor kurzem lag er in Deutsch, Englisch und Französisch in Beratungsstellen und Ausländerämtern aus und war im Internet herunterzuladen. Nun kommen Exemplare unter anderem in Arabisch, Russisch und Portugiesisch dazu.
Genitalverstümmelung ist auch in 25 afrikanischen Ländern verboten. Dennoch ist die vermutlich Tausende Jahre alte Tradition in Ländern wie Eritrea, Somalia, Sierra Leone oder Mali weit verbreitet, aber auch in asiatischen und arabischen Ländern. Bei dem Eingriff werden Schamlippen oder Klitoris teilweise oder vollständig entfernt, oft unter mangelhaften hygienischen Bedingungen, ohne Narkose und mit einfachen Instrumenten wie Rasierklingen.
Risiko für in Deutschland geborene Mädchen geringer
Die Frauen und Mädchen leiden häufig ein Leben lang unter den Folgen wie Infektionen, Schmerzen beim Wasserlassen, während der Menstruation und Komplikationen bei Geburten. Ein Viertel der Beschnittenen stirbt laut "Terre des Femmes" daran. Nach traditionellem Verständnis, das nicht religionsgebunden ist, sondern eher von der Ethnie abhängt, sind nicht-beschnittene Frauen unrein und haben schlechte Heiratschancen.
In Deutschland geborene Mädchen haben laut Nabateregga ein deutlich geringeres Risiko, beschnitten zu werden. "Das Umfeld ist ein anderes, die Gesetze strikter, der soziale Druck ist geringer", erläutert die Expertin, die aus Uganda stammt und seit über zehn Jahren in Deutschland lebt. "Die Kinder sind auch durch die regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen und die Schule geschützt." Diese Sicherheit könne der Schutzbrief noch erhöhen, vor allem wenn er deutschlandweit eingeführt werde. "Am besten sollte er in sehr vielen Sprachen und bebildert sein."