Dass es 85 Jahre nach der Reichspogromnacht und fast 80 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft in Deutschland wieder Judenpogrome geben würde, macht Bernhard Seiger fassungslos: "Es ist erschütternd", sagt der Kölner Stadtsuperintendent, "die Hamas gehört zu den Kräften, die Israel vernichten wollen und diese Erfahrung mussten Juden und Jüdinnen vor 85 Jahren machen: Sie sollten als Volk vernichtet werden." Daran weckten die aktuellen Ereignisse Erinnerungen, so der evangelische Pfarrer.
Seit die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober israelische Zivilisten überfallen hat und Israel in Gaza kämpft, gibt es wieder Pogrome: In der vergangenen Woche war es in der russischen Kaukasusrepublik Dagestan zu blutigen antisemitischen Ausschreitungen gekommen. Auf dem Flughafen der Hauptstadt hinderte ein aufgebrachter Mob die Passagiere einer Maschine aus Tel Aviv am Aussteigen. In einem New Yorker College mussten sich jüdische Studierende in eine Bibliothek flüchten, während auf dem Campus eine palästinensische Solidaritätsdemonstration stattfand. Und in Deutschland werden Türen von Häusern mit Davidsternen beschmiert, in denen angeblich Jüdinnen oder Juden wohnen.
Zeichen der Solidarität
Vor diesem Hintergrund rufen das Katholische Stadtdekanat Köln, der Katholikenausschuss in der Stadt Köln und der Evangelische Kirchenverband Köln und Region erstmals zu einem Schweigegang am Vorabend des Gedenkens an die Pogromnacht am 9. November 1938 auf. Es sei wichtig, dass die Kirchen ein klares Zeichen der Solidarität setzten, so Bernhard Seiger: "Wir wollen zeigen: Das geschieht 2023 in Deutschland nicht, wir stehen fest an der Seite unserer jüdischen Geschwister."
Der Schweigegang beginnt am 8. November um 18 Uhr auf den Roncalliplatz am Dom, nach einer kurzen Begrüßung ziehen die Teilnehmenden mit Kerzen durch die Kölner Innenstadt, vorbei an der Glockengasse, wo heute das 4711-Haus steht und sich bis zur Reichpogromnacht 1938 Kölns erste neuzeitliche Synagoge befand. Der Marsch erinnert an den 9. November 1938, als in ganz Deutschland Synagogen in Brand gesetzt und jüdische Geschäfte geplündert wurden. Die Reichspogromnacht war das offizielle Signal zu einer Entwicklung, die in der "Endlösung der Judenfrage" und Ermordung von sieben Millionen Menschen mündete.
Pogrome sind wieder aktuell
Endpunkt des Schweigemarsches ist die Roonstraße, wo heute die große Kölner Synagogengemeinde beheimatet ist. "Dort werden wir die Kerzen abstellen und ein Gebet sprechen", erklärt der Stadtsuperintendent Seiger. "Es geht darum, dass wir als Kirchen klar machen, dass wir mit den Juden und Jüdinnen um die Opfer mittrauern, dass wir zeigen, dass uns diese Massaker nicht kalt lassen. Und dass wir auch die Bedrohung und die Angst wahrnehmen, die sie derzeit in Deutschland spüren."
Schon vor den Terrorangriffen gegen Israel am 7. Oktober und den antisemitischen Übergriffen auch in Deutschland waren die Vertreter der christlichen Kirchen – Stadtdechant Msgr. Robert Kleine und Stadtsuperintendent Bernhard Seiger – vom Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln gebeten worden, die Festrede zum Gedenken am 9. November in der Synagoge zu halten. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Katholikenausschusses Gregor Stiels wollen sie mit dem Schweigegang nun auch ein öffentliches Zeichen der Anteilnahme und Verbundenheit mit Israel und den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Kölns setzen.
Keine Anzeichen für Störaktionen
"Menschliches Leid, Tod und Zerstörung in Israel und im Gazastreifen können und dürfen nicht gegeneinander aufgewogen werden", heißt es in einer Pressmitteilung. Jedes Opfer sei eines zu viel. Die Massaker am 7. Oktober hätten Jüdinnen und Juden weltweit an die Schrecken der Shoah erinnert: "Am Vorabend des 85. Jahrestags der Novemberpogrome möchten wir als Christinnen und Christen ein deutliches Zeichen setzen, dass die 1.400 Opfer der Massaker und Geiselnahmen am 7. Oktober nicht vergessen sind."
Derzeit kommt es Deutschland bei pro-palästinensischen Demonstrationen auch immer wieder zu antisemitischen Äußerungen, die das Existenzrecht Israels verneinen. Bisher gebe es jedoch keine Anzeichen für Gegendemonstrationen oder geplante Störaktionen, so Stadtsuperintendent Seiger. Er glaubt nicht, dass in Köln die Atmosphäre so aufgeheizt wie in einigen Berliner Bezirken ist. "Wir haben in Köln eine Kultur der Toleranz: Man kann bei Demonstrationen unterschiedlicher Auffassung sein, aber ich glaube nicht, dass es Kräfte gibt, die das an dieser Stelle missbrauchen werden." Trotzdem seien Sicherheitskräfte vorbereitet, falls es zu antisemitischen Aktionen kommt. "Unsere Botschaft ist deutlich", so Seiger. "Und wer dagegen vorgeht, desavouiert sich selbst."