Der italienischen Vatikan-Expertin Giovanna Chirri standen Tränen in den Augen, als ihr klar wurde, was sie gerade hörte. Damals, am 11. Februar 2013, saß sie im Vatikanischen Pressezentrum und verfolgte mit Dutzenden anderen Journalisten an ihren Bildschirmen die Ansprache, die Benedikt XVI. vor den versammelten Kardinälen hielt. Auf Latein.
Chirri versteht die alte Sprache. Doch das, was sie da hört, will sie erst einmal nicht glauben, sie bittet um eine offizielle Bestätigung: Hat er gerade gesagt: "Declaro me ministerio Episcopi Romae renuntiare"? Stimmt es wirklich, dass Benedikt XVI. gerade gesagt hat, er erkläre seinen Rücktritt vom Papstamt, die Amtszeit ende am Abend des 28. Februar 2013?
Sensation ging um die Welt
Schließlich erhielt Chirri die Bestätigung des Pressesprechers Federico Lombardi - und die Sensation ging um die Welt. In Deutschland war Rosenmontag. Medien mit Sitz im Rheinland warnten eigens: "Achtung, kein Karnevalsscherz!" Tage später folgten die Bilder, an die viele sich noch erinnern: Der Abschied im Hof des Apostolischen Palasts, der Helikopter, der über die Kuppel des Petersdoms entschwindet, der kurze Gruß von der Loggia in der Päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo, diesmal auf Italienisch "Buona notte!". Erstmals seit über 700 Jahren war ein Papst freiwillig zurücktreten.
Zwei Wochen danach wurde sein Nachfolger gewählt, dem er bereits in seiner Rücktrittsrede vor den Kardinälen Gehorsam zugesagt hatte. Im Nachhinein mag der Rücktritt Benedikts XVI. als folgerichtig erscheinen. Hatte doch Kardinal Ratzinger in den letzten Monaten der Amtszeit von Johannes Paul II. in einem Interview mit der Münchner Kirchenzeitung erklärt, natürlich könne ein Papst zurücktreten. Bei einigen Kardinälen sorgte das für Unmut, es sei ungebührlich, so etwas öffentlich zu sagen. Seinen eigenen Rücktritt hielt er für seine "Pflicht", wie Benedikt XVI. später erklärte.
Bald nach seiner Wahl besuchte ihn sein Nachfolger Franziskus. Das Bild von zwei römischen Päpsten, die sich treffen, ging um die Welt, wurde nach und nach zur Gewohnheit. Etwa wenn Franziskus dem "Papst emeritus" - auf die Bezeichnung wird nach wie vor viel Wert gelegt - neu ernannte Kardinäle vorstellt, oder wenn anfangs Benedikt XVI. bei großen Gottesdiensten im Petersdom zugegen war. Franziskus' Bemerkung über den "guten Großvater" im ehemaligen Kloster "Mater ecclesiae", der zuhören und Rat geben könne, tat ihr Übriges.
Keine Gegenspieler
Befürchtungen, der Altpapst könne zum Gegenspieler des Neuen werden, sind nicht eingetreten. So hat der amtierende Papst den emeritierten stets in seiner Nähe im Vatikan, seitdem er Castel Gandolfo zum Museum erklärte. Es gibt also keinen räumlichen Gegenpol. In Persönlichkeit und Stil unterscheiden sich der "Pfarrer-Papst" aus Buenos Aires und sein Vorgänger, der "Professoren-Papst" aus Bayern.
Theologisch mag - anders als von manchen behauptet - hier und da doch ein Blatt Papier zwischen die beiden passen. Die Gefahr, sie gegeneinander auszuspielen, geht aber eher von anderen aus, die sie für eigene Interessen instrumentalisieren wollen.
Wobei der emeritierte Papst weniger schweigsam ist als zunächst erwartet. So schrieb er ein Vorwort für ein Buch von Kardinal Robert Sarah im Mai 2017. Dem Präfekten der Gottesdienstkongregation bescheinigte er, die Liturgie sei bei ihm "in guten Händen".
Franziskus hingegen hat Sarah im Herbst wegen dessen Interpretation des Motu Proprio "Magnum principium" öffentlich getadelt. Auch das ausführliche Interviewbuch mit dem deutschen Autoren Peter Seewald im Jahr 2016 ("Letzte Gespräche") sorgte für Debatten. Hatte Benedikt XVI. vor seinem Rücktritt nicht versprochen, der Kirche fortan im Gebet zu dienen? Von Stummheit war allerdings nie die Rede.
Seltene öffentliche Auftritte
Öffentlich gesprochen hat Benedikt XVI. seit dem Rücktritt nur sehr selten: Als ihm im Juli 2015 in Castel Gandolfo die Ehrendoktorwürden der katholischen Universität und des Konservatoriums von Krakau verliehen wurden, sprach er über die klassische Musik und den Glauben. Hinzu kommen einige halböffentliche Reden, etwa bei Geburtstagsbesuchen aus der bayerischen Heimat. Unlängst erschien ein kurzes Grußwort von ihm - in einer Festschrift für Kardinal Müller.
Für alle schriftlichen Äußerungen, heißt es, hole sich Benedikt XVI. vorher die Genehmigung seines Nachfolgers ein.
In den ersten Wochen und Monaten nach seinem Rücktritt sah der Altpapst erholter und munterer aus als in den letzten Wochen seiner Amtszeit. Die von ihm begonnenen großen Reformen der Kurie sowie zum Umgang mit Missbrauch in der Kirche, die umzusetzen er sich nicht mehr in der Lage sah, hatte er symbolisiert in zwei großen Aktenkartons seinem Nachfolger übergeben. Damit hat Franziskus weiterhin seine große Last.
Inzwischen hat Benedikts körperliche Gesundheit doch nachgelassen, ein Sturz mit blauen Flecken im Gesicht sorgte für Aufregung. Geistig sei er nach wie vor fit, sagen jene, die ihn treffen konnten.
Die Besuche des aktuellen Papstes scheinen seltener geworden zu sein. Begegnungen mit anderen werden nur bekannt, wenn die Besucher selber davon berichten. Es gab wohl auch Gäste, die sich bei Benedikt XVI. über Franziskus beschweren wollten. Doch die wurden, wie Franziskus selbst einmal erzählte, von seinem Vorgänger unverzüglich vom Hof gejagt; "auf bayerische Art", wie er hinzufügte.
Kirchenjuristen beschäftigt der Rücktritt Benedikts XVI. bis heute, vor allem die Frage, ob und wie der Rücktritt eines künftigen Papstes näher zu regeln sei. Sein Nachfolger Franziskus ist überzeugt, dass dieser Schritt kein Einzelfall bleiben wird.