Kriegsdrohungen, Instrumentalisierung von Volksgruppen, eine angestrebte Abspaltung: Seit Jahren war die Lage auf dem Balkan nicht so angespannt wie derzeit. Geht es nach Aussage der kosovarischen Regierung, bereitet Serbien gar einen neuen Krieg in Europa vor. Obwohl die Belgrader Regierung von Präsident Aleksandar Vucic auf Druck von USA und EU inzwischen Teile der Armee von der gemeinsamen Grenze abgezogen hat, geht das Säbelrasseln weiter. Dabei ist Serbien laut Experten nicht der einzige destabilisierende Faktor in Südosteuropa.
Steht eine Invasion bevor?
Die Stimmung erinnert manchen an die Tage vor der russischen Invasion der Ukraine. Die Armee steht vor der Tür - und laut Kosovos Polizeidirektor bereit, einen "kompletten Anschluss des nördlichen Kosovo" an Serbien zu vollziehen. Bis heute sieht Serbien das Land, das sich 2008 von Belgrad lossagte, als Teil seines Gebietes an. Präsident Vucic wirft der kosovarischen Regierung eine Lügenkampagne vor: Würde eine Invasion nicht den Weg in die EU verunmöglichen, den beide Länder anstreben?
Fest steht: Deutschland, England und Rumänien stocken angesichts der jüngsten Eskalation ihre Nato-Truppen im Kosovo auf. Der historische Konflikt hatte mit dem Angriff vor zwei Wochen durch serbische Extremisten eine neuen Krise erlebt: Ende September lieferten sich in der Stadt Banjska Bewaffnete ein stundenlanges Gefecht mit der kosovarischen Polizei; zeitweise besetzten sie auch ein serbisch-orthodoxes Kloster. Als Drahtzieher zeigte sich Milan Radoicic, früherer Vizechef der Partei Srpska Lista. Die Partei der ethnisch serbischen Minderheit im Norden des Kosovo pflegt enge Beziehungen zur Vucic-Regierung. Radoicic bleibt unter Quasi-Hausarrest - nicht im Kosovo, sondern in Serbien.
Unklare Lage
"Die serbische Bevölkerung ist verwirrt darüber, was am 24. September tatsächlich in Banjska geschah", sagt Nikola Burazer, Politologe in der Hauptstadt Belgrad. Zum einen versuche man immer noch herauszufinden, wer genau die Bewaffneten waren und welches Motiv sie hatten. Zum anderen arbeiteten propagandistische Pro-Regierungs-Medien daran, die beim Schusswechsel von der Polizei getöteten Serben als Helden zu porträtieren.
Ethnischer Nationalismus und Propaganda bedrohen derzeit auch wieder das Zusammenleben in Bosnien und Herzegowina. Nach dem Friedensabkommen von Dayton 1995 ist das Land in eine bosniakisch-kroatische und eine serbische Entität geteilt. Doch seit Monaten erweist sich Milorad Dodik, Präsident der serbischen Republika Srpska, als Widersacher der Regierung in Sarajevo, die verzweifelt versucht, den Vielvölkerstaat zusammenzuhalten. Mit Blick auf eine mögliche Abspaltung betonte Dodik am Wochenende: "Wir wollen Bosnien und Herzegowina nicht, so wie es jetzt ist."
Weder ungewöhnlich noch verwerflich
"Der serbische Einfluss ist Teil des Alltags in Bosnien und Herzegowina", sagt Damir Kapidzic, Politikexperte an der Universität Sarajevo. Das sei immer schon so gewesen und aus historischer Sicht weder ungewöhnlich noch verwerflich. Zum Problem werde die enge Beziehung zwischen den bosnischen Serben und der Regierung in Belgrad allerdings, wenn sie die Eigenständigkeit Bosnien-Herzegowinas untergrabe.
Vucic als autokratische Spinne, die ihre Fäden über die Region spinnt? Laut Kapidzic wäre es falsch, Serbien als einzigen destabilisierenden Faktor auf dem Balkan abzustempeln. Auch die Türkei, Russland und Ungarn bauten ihren Einfluss aus. Das sei auch nicht allzu schwer angesichts eines "jahrzehntelangen Desinteresses der EU, sich mit der Region auseinanderzusetzen".
Autoritäre Anführer
Anfang Oktober teilte der Serbenrepublik-Führer Dodik mit, dass Ungarns Regierung unter Viktor Orban mehrere Infrastrukturprojekte fortführen wolle, nachdem Deutschland die Finanzierung wegen Dodiks separatistischer Politik eingefroren hatte. In Ungarn habe man einen Freund gefunden, so Dodik. Experte Kapidzic attestiert hingegen: "Im Grunde geht es hier um autoritäre Anführer, die gut darin sind, politische Krisen zu schaffen und gleichzeitig Lösungen für diese künstlich geschaffenen Problem anzubieten."
Endgültig geklärt sind die Fronten in Südosteuropa noch lange nicht. So fürchtet der langjährige Nato-Diplomat Jamie Shea, dass Russland die derzeitigen Spannungen ausnutzen werde, um die Aufmerksamkeit des Westens von der Ukraine abzulenken und dessen Position auf dem Westbalkan zu schwächen. Um die Region nicht den Autokraten zu überlassen, müsse die EU die Hand ausstrecken; zum Beispiel den Kosovaren. Erste Schritte wären laut Shea mehr Reisefreiheit sowie die Aufnahme einer der jüngsten Bevölkerungen Europas in Wissenschafts-, Technologie- und Ausbildungsprogramme.