Karl Haucke bringt seinen Kampf gegen Missbrauch auf die Bühne

"Sexualisierte Gewalt ist einkalkuliertes Kindheitsrisiko"

Karl Haucke ist Betroffener körperlicher, sexualisierter und spiritueller Gewalt in einem katholischen Ordensinternat. Zu seinen Bemühungen um Aufklärung zählt nun ein Engagement am Schauspielhaus Köln. Der Schritt auf die Bühne ist kein leichter.

Karl Haucke / © Thomas Schaekeld (privat)
Karl Haucke / © Thomas Schaekeld ( privat )

DOMRADIO.DE: Wie kam es dazu, dass Sie in dem Theaterstück "Das Himmelreich wollen wir schon selbst finden" am Kölner Schauspielhaus mitwirken?

Karl Haucke (Mitglied der Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch"): Als Mitglied der Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch" nehme ich auch Beratungsaufgaben wahr für Betroffene sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext. Auf diesem Weg ist die Anfrage der Dramaturgin des Kölner Schauspielhauses, Sarah Lorenz, an mich gelangt. Sie hatte nach jemanden gesucht, der sich sozusagen dieser Aufgabe der Mitwirkung im Himmelreich stellen mag.

DOMRADIO.DE: Wie viel Überlegung und auch Überwindung hat es sie gekostet, da zuzusagen?

Haucke: Als Missbrauchsbetroffene haben wir zunächst einmal genau wie jeder andere Mensch die Tendenz, das Thema des menschenverachtenden Umgangs mit Kindern und Jugendlichen, das Thema solcher Verbrechen gedanklich zu meiden. Für mich ist das Thema allerdings immer präsent. Aber es ist etwas anderes, wenn ich gefordert bin, beim Schreiben und Vortragen der Texte mich wieder tief mit der Beschädigung zu befassen. Ich habe zugesagt, weil ich anderen Menschen etwas sagen will und unter der Bedingung, dass ich auf der Bühne keinen Voyeurismus bedienen muss.

DOMRADIO.DE: Wie waren die Probearbeiten? Wie wurde Ihr Auftritt inszeniert, geplant, vorbereitet? Wie haben Sie Ihren Text, Ihre Erlebnisse zusammenfassen können?

Haucke: Ich habe zunächst den Proben des Ensembles zugeschaut. Ich wollte mir über die Atmosphäre des Stückes klar werden und im Ablauf der Szenen Anknüpfungspunkte finden für meine Texte. Dann habe ich die Texte geschrieben mit Bezug auf zentrale Aussagen des Stückes und mit Bezug auf meine Geschichte natürlich. Ich habe viel zu viel geschrieben. Der Regisseur Oliver Frljic und die Dramaturgin haben mir dann beim Zusammenstreichen geholfen. Sie haben das sehr feinfühlig gemacht. Es waren meine Texte und niemand wollte mich zu etwas überreden. Trotzdem mussten einige wichtige Abschnitte weichen, zum Beispiel meine Kommentare zur unerträglichen Macht der Kleriker damals beim Dombau und heute beim Schutz der Täterorganisation. Aber so ist das eben bei der Entwicklung von Texten.

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie nun das Zusammenspiel mit dem Theater, dem Regisseur und den Schauspielern erlebt? Das ist ja für Sie alles eine Premiere. So was haben Sie ja noch nie gemacht.

Haucke: Tatsächlich. Ich habe so was noch nie gemacht. Über die erquickliche Zusammenarbeit mit der überzeugenden Dramaturgin habe ich ja schon gesprochen. Oliver Frljic ist ein partizipativ arbeitender Regisseur, der mit seiner faszinierend skurrilen Fantasie alle anderen mitreißt. Es macht einfach Spaß mit ihm. Auch die Zusammenarbeit mit den Schauspielern ist großartig. Sie waren zunächst geschockt, als Sie meinen 20 Minuten-Monolog das erste Mal hörten. Ich hatte sie allerdings mit einer kleinen Vorrede ein wenig vorbereitet, trotzdem: Zuzuhören, zu welchen Verbrechen an Kindern Erwachsene und Geweihte in der Lage sind, das steckt man nicht so einfach weg. Dort auf der Bühne standen nach der ersten Lähmung sehr, sehr respektvolle Menschen, die alles getan haben, um mir die Integration in das Ensemble und meine Aufgabe zu erleichtern. Das sind wirklich Profis, denen ich anmerken konnte, dass sie in der Vermittlung zwischen Stück und Publikum eine Berufung sehen.

DOMRADIO.DE: Am Ende des Stückes stehen Sie auf der Bühne und die Schauspieler, die sitzen um sie herum und hören ihnen auch aufmerksam zu. Wie haben Sie die Premiere erlebt? Wie haben Sie es erlebt, in der realen Situation mit Zuschauern auf der Bühne zu stehen?

Haucke: Ja, das war natürlich aufregend. Aus meiner Zeit als Hochschullehrer wusste ich, dass ich immer ruhiger werde, je näher die Aufgabe rückt. Trotzdem hatte ich so etwas wie einen Tunnelblick - sehr nach innen gerichtet, sehr fokussiert auf das, was ich sagen wollte. Zum Glück waren Freunde im Publikum und manchmal ist es mir gelungen, Blickkontakt aufzunehmen. Das stärkt natürlich.

DOMRADIO.DE: Das hat sie sicher viel Kraft gekostet? Das ist ja eine riesengroße Aufregung.

Haucke: Ich kann ohne Übertreibung sagen, das hat zum Heulen viel Kraft gefordert. Trotzdem ist ein solcher Auftritt besser zu ertragen als die ständigen Angriffe und Übergriffe derer, die meinen oder vorgeben, im Auftrag Gottes zu handeln.

DOMRADIO.DE: Haben Sie auch Rückmeldungen bekommen?

Haucke: Ja, eine Menge sogar. Das Stück hat ja verdientermaßen sehr positive Kritiken erhalten. Die analytische Herangehensweise, die Buntheit, die Scharfzüngigkeit, der Ideenreichtum der Collage, das alles konnte man lesen in den Rezensionen. Ich selbst habe mich auch über Kritiker gefreut, welche die Poesie meiner Texte lobten oder die Wucht der Aussagen. Über Kritiker, die meine Botschaften verstanden und wiedergegeben haben, nämlich die Nachricht von den lebenslangen Folgen der sexualisierten Gewalt. Die Nachricht von der Notwendigkeit, die Kleriker von ihrem hohen moralischen Podest, von ihrer vermeintlichen Heiligkeit zu erlösen und den Appell: "Reißt die Mauern des Schweigens ein, redet mit, mischt euch ein!" Ich erhoffe mir, dass es achtsame Zuschauer gibt, die Konsequenzen ziehen in ihrem Leben.

DOMRADIO.DE: Was kann das auslösen? Was sollte das bewirken?

Haucke: Viele Menschen wissen nicht, wie stark die Bilder der Missbrauchserfahrungen sind. Etwa die Bilder bei mir von den Beichtsituationen, in denen ich die Taten meines Vergewaltigers immer wieder beschreiben musste. Viele wissen nicht, dass solche Erfahrungen das ganze Leben lang Einfluss nehmen auf die Fähigkeit zu vertrauen, auf die Gestaltung von Beziehungen überhaupt. Und ich habe auch sagen wollen, dass Kleriker nicht Geweihte sind, denen wir uns unterwerfen müssen. Kleriker sind Menschen. Sie haben durch ihre Weihen weder das Recht, Unterwerfung zu fordern, noch das Recht, Kinder zu schänden oder ihr Wissen darüber zu unterschlagen. Es steht Ihnen auch nicht zu, mich zur Beteiligung an der ihrerseits notwendigen Buße einzuladen.

Ich bin in dem Zusammenhang, über den wir hier reden, ohne Schuld. Von den Schuldigen habe ich hier im Erzbistum Köln bisher weder Worte des Bekenntnisses oder der Reue, noch Taten der handfesten Buße wahrnehmen können. Und eine dritte Botschaft möchte ich benennen. Jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland hat in seiner Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt. In jeder Schulklasse sitzen im Durchschnitt zwei Kinder mit Missbrauchs- und Gewalterfahrungen. Sexuelle Gewalt ist heute zum einkalkulierten Kindheitsrisiko geworden. Wir müssen aufhören, darüber zu schweigen. Das ist mein Anliegen an diesem Theaterabend.

Das Interview führte Johannes Schröer.


Quelle:
DR