"Das ist nicht das Ende, es ist erst der Anfang", betonte Berlinale-Leiter Carlo Chatrian im März bei der Verkündung der Preisträger. Denn mit der Online-Präsentation der Filme fürs akkreditierte Fachpublikum war nur der erste Teil des 71. Festivals vorbei; jetzt läuft noch bis zum 20. Juni nach der Pflicht die Kür in Form eines Publikumsfestivals und einer feierlichen Preisgala am Sonntag.
Denn mit der Aussicht auf die Fortführung beschränkte sich die Verkündung der Preise im März auf die bloßen Fakten. Chatrian übergab per Live-Schaltung das Wort an die Jury, die kurz und bündig die Gewinner und die Begründungen mitteilte. Der Jury gehörten für den Wettbewerb Ildiko Enyedi (Ungarn), Nadav Lapid (Israel), Adina Pintilie (Rumänien), Mohammad Rasoulof (Iran), Gianfranco Rosi (Italien) und Jasmila Zbanic an, allesamt Filmschaffende, die in Jahren zuvor den "Goldenen Bären" gewonnen hatten.
Thema: Rumänien
Den Hauptpreis des Festivals vergaben die sechs diesmal an den Film "Bad Luck Banging or Loony Porn" von Radu Jude, eine kritische Generalabrechnung mit dessen Heimatland Rumänien. Die Zusammensetzung der Jury mit lauter Regisseurinnen und Regisseuren machte es besonders spannend, wem sie den Regie-Preis zuerkennen würden. Auch in dieser Kategorie triumphierte ein Beitrag aus Osteuropa: Der 1980 geborene Ungar Denes Nagy wurde für dieInszenierung von "Natural Light" ausgezeichnet. Es gab zwar auch andere herausragende Regie-Arbeiten, die eine gute Wahl gewesen wären, etwa Celine Sciamma mit ihrem poetischen Trauerfilm "Petite Maman", doch der suggestiv-stille Kriegsfilm "Natural Light" lässt als Spielfilmdebüt Nagys Leistung umso außergewöhnlicher erscheinen.
Zu den mit Preisen bedachten Werken und Künstlern gehörten auch zwei deutsche Filmschaffende: Mit dem "Preis der Jury" wurde Maria Speths Dokumentarfilm "Herr Bachmann und seine Klasse" geehrt, das Porträt einer sechsten Schulklasse aus dem hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf und ihres Lehrers, der Schüler aus zwölf Nationen unter einen Hut bekommen muss: "Aus der Perspektive der Regisseurin beobachtet, ist dieser Lehrer einzigartig: Er gestaltet ein System in der Krise um, federt es ab, macht es menschlicher, und diese Menschlichkeit macht es viel wirksamer".
Komödie "Ich bin dein Mensch"
Ebenfalls ausgezeichnet wurde die Schauspielerin Maren Eggert für die beste Leistung in einer Hauptrolle. Sie verkörpert in der hintersinnig-futuristischen Komödie "Ich bin dein Mensch" von Maria Schrader eine Wissenschaftlerin, diewiderwillig eine Künstliche Intelligenz in humanoider Gestalt auf ihre Tauglichkeit als Lebens- und Liebespartner testet; Eggert beweist dabei nicht nur ein großes Feingefühl für komödiantisches Timing, sondern schafft es auch, den Zuschauer für die emotionale Wandlung der Figur - von Ablehnung und produktiver Verunsicherung bis zu Neugier und einer allmählichen Öffnung - einzunehmen.
Goldener Bär: "Bad Luck Banging or Loony Porn " von Radu Jude (Rumänien)
Jury-Begründung: "Der Goldene Bär geht an einen Film, der die seltenen und grundlegenden Eigenschaften eines beständigen Kunstwerks besitzt. Es fängt auf der Leinwand den eigentlichen Gehalt, die Quintessenz, Geist und Körper, die Wertvorstellungen und das nackte Fleisch unseres gegenwärtigen Augenblicks ein. Genau dieses Augenblicks menschlichen Daseins.
Er tut das, indem er den Zeitgeist heraufbeschwört, ihn ohrfeigt, zum Duell herausfordert. Und damit hinterfragt er auch den gegenwärtigen Zeitpunkt im Kinofilm, indem er mit derselben Kamerabewegung unsere gesellschaftlichen und filmischen Konventionen erschüttert. Es ist ein kunstvoll ausgearbeiteter Film, der zugleich ausgelassen ist, intelligent und kindisch, geometrisch und lebendig, auf beste Art ungenau. Er greift die Zuschauer*innen an, ruft Widerspruch hervor, und erlaubt doch niemandem, Sicherheitsabstand zu halten."
Großer Preis der Jury: " Wheel of Fortune and Fantasy" von RyusukeHamaguchi (Japan)
Jury-Begründung: "Dort, wo Dialoge und Wörter für gewöhnlich aufhören, fangen die Dialoge dieses Films erst an. Hier gehen sie in die Tiefe, so tief, dass wir uns erstaunt und besorgt fragen: Wie viel tiefer geht es noch? Hamaguchis Wörter sind Materie, Musik, Werkstoff. Zunächst sieht es fast unbedeutend aus: Ein Mann und eine Frau, manchmal zwei Frauen, stehen in einem Raum mit weißen Wänden. Dann kommt die Szene in Bewegung, und während sie sich entwickelt, fühlt man, dass das ganze Universum, einschließlich man selbst, dort zusammen mit ihnen in diesem einfachen Raum steht."
Preis der Jury: "Herr Bachmann und seine Klasse" von Maria Speth (Deutschland)
Jury-Begründung: "Im Film kann man die Aufmerksamkeit auf grundlegende Probleme lenken, indem man den Finger auf die Wunde legt, oder indem man Zuversicht zeigt und Anregungen gibt, wie eine positive Veränderung bewirkt werden kann. Die Regisseurin dieses einfühlsam-kraftvollen Dokumentarfilms hat sich für letztere Strategie entschieden. Der Film behält immer den richtigen Abstand in seiner Konzentration auf einen der "Außendienstmitarbeiter" unserer Gesellschaft, der für die prägendsten Jahre unserer Kinder bestimmend ist und ihre Lebenseinstellung nachhaltig beeinflusst. Aus der Perspektive der Regisseurin beobachtet ist dieser Lehrer einzigartig: er gestaltet ein System in der Krise - unser europäisches Bildungssystem - um, federt es ab, macht es menschlicher, und diese Menschlichkeit macht es viel wirksamer. Der Film zeigt, wie weit man es allein mit echtem Respekt, offenem Austausch und dem Zaubertrick bringen kann, den alle großartigen Lehrer*innen beherrschen: sie entfachen das Feuer der Leidenschaft in ihren Schüler*innen, indem sie ihre Fantasie anregen."
Beste Regie: Denes Nagy für "Natural Light"
Jury-Begründung: "Beängstigende und wunderbar gefilmte, hypnotisierende Bilder; eine beeindruckende Regiearbeit und meisterhafte Steuerung jeder einzelnen Komponente des Filmkunsthandwerks; eine Erzählung, die über ihren geschichtlichen Zusammenhang hinausweist. Das Abbild eines Krieges, bei dem der aufmerksame Blick des Regisseurs uns erneut daran erinnert, dass wir uns zwischen Passivität und dem Übernehmen persönlicher Verantwortung entscheiden müssen."
Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle: Maren Eggert in "Ich bin dein Mensch"
Jury-Begründung: "Ihre Präsenz machte uns neugierig, ihr Charme sensibel. Und ihre breite schauspielerische Palette ließ uns fühlen, lachen und Fragen stellen. Mit Unterstützung ihrer wunderbaren Kolleg*innen und ihrer Regisseurin erfüllte sie ein ausgezeichnetes Drehbuch selbstbewusst mit Leben und erschuf eine unvergessliche Figur, mit der wir uns identifizieren können - was uns dazu bringt, über unsere Gegenwart und unsere Zukunft nachzudenken, über unsere Beziehungen und darüber, was wir wirklich im Leben wollen."
Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle: Lilla Kizlinger in "Forest - I See You Everywhere "
Jury-Begründung: "Unter den vielen herausragenden Kleinstdarstellungen in Forest - I See You Everywhere fanden wir eine besonders überzeugend und einprägsam. Auf ihren jungen Schultern trägt Lilla Kizlinger eine außergewöhnliche Verantwortung mit Anmut und einer täuschend natürlichen Lockerheit.
Allein durch die Kraft ihrer Interpretation und ihre intensive Präsenz zieht sie die verdeckten Ebenen der Szene an die Oberfläche und definiert damit genau genommen den Anlass hinter dem Film: die unheimliche Bedrohung dieser Welt, das Erbe, das wir Erwachsenen den Kindern von heute überlassen. Statt uns etwas zu erzählen, es uns zu erklären, bewältigt sie die viel schwierigere Aufgabe, in uns das Bedürfnis zu wecken, über die drängenden, beunruhigenden Fragen unserer Gegenwart nachzudenken. Sie hat uns bezaubert, und mit diesem Bezaubertsein hat sie uns zum Nachdenken angeregt."
Bestes Drehbuch: Hong Sangsoo für " Introduction "
Jury-Begründung: "Dieses Drehbuch schafft mehr, als eine Geschichte zu erzählen oder die Handlung effizient voranzutreiben, indem es jene flüchtigen Zwischenräume zwischen einer Handlung und der nächsten herstellt, in denen, für einen Augenblick, eine verborgene Wahrheit des menschlichen Lebens unversehens offenbart wird, hell und klar."
Herausragende Künstlerische Leistung: Yibra Asuad für "A Cop Movie"
Jury-Begründung: "Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung geht an das meisterhafte Montagekonzept eines gewagten, innovativen Kinowerks, das die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen lässt und mutig die Fähigkeit der Filmsprache erforscht, unsere Sicht auf die Welt zu verändern. Die Montage spielt eine wesentliche Rolle bei der Untermauerung der einzigartigen Vision des Filmemachers, indem sie die zahlreichen Ebenen von Realität und Sprache gekonnt dekonstruiert, um einen detaillierten, nachdenklich stimmenden Einblick in eine der umstrittensten Institutionen Mexikos zu gewähren."