Der Zuchtmeister der katholischen Kirche spricht leise und mit der weichen Mundart seiner rheinhessischen Heimat. "Ich bin Mainzer, und Mainzer sind auf Harmonie bedacht", sagt Gerhard Ludwig Müller, ehemals Präfekt der römischen Glaubenskongregation und gebürtig aus Mainz-Finthen. Diesen Wesenszug haben allerdings noch nicht viele bei ihm ausmachen können: Müller, früher Bischof von Regensburg, gilt als streitlustiger katholischer Hardliner. Er ist der Lieblingsgegner aller deutschen Katholiken, die ihre Kirche derzeit mit dem sogenannten Synodalen Weg auf Reformkurs bringen wollen.
Allein seine Körpergröße von 1,96 Metern garantiert Müller, dass man ihn in Rom nicht übersehen kann. Aber er hat auch etwas Großväterliches, wie er da weißhaarig in einem Lehnstuhl seines Studierzimmers sitzt. Von seinem Platz am Schreibtisch aus hat Müller einen direkten Blick auf das Zentrum der katholischen Weltkirche - die Kuppel des Petersdoms scheint zum Greifen nah. Es ist ein ganz besonderes Apartment, in dem er nun schon zehn Jahre lebt: Bis zu seiner Wahl zum Papst 2005 wohnte hier Kardinal Joseph Ratzinger.
Eben der berief Müller 2012 zum Präfekten der Glaubenskongregation. Hätte sich Benedikt ein Jahr später nicht zum Rücktritt entschlossen, wäre Müller jetzt vermutlich noch im Amt. Doch Papst Franziskus zog es vor, seine Amtszeit nicht zu verlängern, worüber er ihn mit einem Vorlauf von einer einzigen Woche bei ihrer letzten gemeinsamen Sitzung informierte.
Befreiungstheologie und ein krudes Manifest
Diese Behandlung hat Müller tief verletzt. Seither, so beklagen auch einige langjährige Weggefährten von ihm, sei er immer mehr ins Lager der ultrakonservativen Papstgegner abgedriftet. Er selbst bestreitet das: Theologisch stehe er auch treu zum aktuellen Papst. 2020 unterschrieb Müller gar ein krudes Manifest gegen Corona-Maßnahmen, das vor der "Schaffung einer Weltregierung" warnte. Zurücknehmen will er die Aussagen nicht: Zwar könne er sich zu medizinischen Fragen nicht äußern, aber unbestritten sei doch, dass manche Regierungen die Pandemie als Vorwand für Unterdrückungsmaßnahmen missbraucht hätten - "schauen Sie nach China!" Nur darauf habe er hinweisen wollen.
Kaum noch vorstellbar, dass Müller in der Kirche früher fast als Linker galt. Er war - und ist - ein Verteidiger der südamerikanischen Befreiungstheologie, die die Armen vor Ausbeutung und Entrechtung schützen will und zeitweise unter Marxismus-Verdacht geriet. Über 15 Jahre hinweg verbrachte er seinen Urlaub in Peru und leistete dort Hilfe in Pfarreien. Dabei lernte er fließend Spanisch, wobei er ebenso Fernsehinterviews auf Italienisch, Französisch und Englisch gibt. Sechs andere Sprachen beherrscht er immerhin so gut, dass er darin predigen kann. Was das betrifft, ist er ein idealtypischer Vertreter der katholischen Weltkirche. Als Theologie-Professor war Müller ein Ziehsohn des liberalen Vordenkers Karl Lehmann, der sich als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz mit Nachdruck für die kirchliche Schwangerenberatung einsetzte.
Lehmann starb 2018, ein Jahr bevor die deutschen Katholiken ihren großen Reformprozess begannen, den Synodalen Weg. Dabei geht es ihnen um konkrete Änderungen in den Bereichen Umgang mit Macht, Position der Frau, Sexualmoral und Pflichtzölibat der Priester. Müller gehört zu den härtesten Kritikern des Projekts.
Dass die Reformen als Konsequenz aus dem Missbrauchsskandal nötig wären, vermag er nicht zu erkennen. Missbrauch gebe es in allen Teilen der Gesellschaft, die Kirche stehe da zu Unrecht am Pranger. "Die Medien zeichnen ein völlig einseitiges Bild und bringen pauschal alle Priester in Verruf." Vor einiger Zeit sei er in Deutschland auf der Straße sogar als "Kinderschänder" angepöbelt worden.
Keine Rückkehr nach Deutschland in Sicht
Am Silvestertag dieses Jahres feiert Müller seinen 75. Geburtstag. Der Aufstieg zu einem der zeitweise mächtigsten Männer der Kirche war ihm nicht in die Wiege gelegt. "Mein Vater hat das ganze Leben bei Opel gearbeitet und damit unsere Familie durchgebracht. Das Schulgeld fürs Gymnasium aufzubringen, war für ihn sehr schwierig." Die Familie war katholisch, "aber nicht im übertriebenen Sinn", wie er betont. Nicht nur seine Eltern, auch seine beiden Schwestern und sein Bruder sind mittlerweile schon gestorben. Ein großes Bild seines Bruders, der vor vier Jahren im Alter von 74 Jahren bei einem tragischen Unfall umkam, fällt in seinem Arbeitszimmer sofort ins Auge. Der Rahmen ist mit Glassteinen, darunter auch Herzen besetzt - gestaltet wurde er von dem zehn Jahre alten Enkel des verstorbenen Bruders.
Eine Rückkehr nach Deutschland plant Müller nicht mehr. "Ich fühle mich als Römer." Sein Zugang zu der Metropole war die römische Geschichte, die ihm schon aus dem Lateinunterricht vertraut war. Rund um sein Haus tobt das Leben mit Eis- und Souvenirverkäufern, Touristengruppen und grimmig dreinblickenden Carabinieri.
Vor allem aber sind da die unerschütterlichen Mauern des Vatikans, Symbol eines Glaubens, an dem es aus seiner Sicht nichts mehr zu verändern gibt. "Die Botschaft Jesu ist das Beste, was es gibt", sagt er. "Warum also sollte man daran irgendwelche Anpassungen vornehmen?" Es scheint so, als hätte mit der deutschen Volkskirche innerlich bereits abgeschlossen. "Und mit Zugeständnissen an den Zeitgeist lässt sich der Niedergang schon mal gar nicht aufhalten."
Aber jetzt sollen diese Dinge erstmal ruhen: Der Kardinal ist auf dem Sprung in den Urlaub. Das Ziel ist Polen – ein Land, in der die katholische Kirche noch überall ein gewichtiges Wort mitzureden hat.