Soziologe sieht Thema Missbrauch nicht mehr skandalträchtig

Schleichende Entwicklung?

Der Religionssoziologe Detlef Pollack sieht aktuell keinen Effekt von Fällen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche auf die Kirchenaustrittszahlen. "Die Skandalträchtigkeit des Themas ist weitgehend verbraucht", sagte er.

Autor/in:
Nils Sandrisser
EKD-Missbrauchsstudie / © Daniel Pilar (KNA)
EKD-Missbrauchsstudie / © Daniel Pilar ( KNA )

Nach früher bekannt gewordenen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche hätten viele Menschen kaum noch Erwartungen an die Kirchen gehabt, die somit auch nicht enttäuscht werden konnten, vermutete der Forscher der Universität Münster gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd).: "Ich kann mir vorstellen, dass das Teil der Erklärung ist." Zwischen evangelischer und katholischer Kirche differenzierten viele, vor allem kirchendistanzierte Menschen nicht.

Noch Vertrauen in die Kirche?

Besonders Kirchenmitglieder räumten der evangelischen Kirche hingegen noch ein Vorschussvertrauen ein, sagte der Soziologe: "Es haben sogar Katholiken im Durchschnitt mehr Vertrauen in die evangelische Kirche als in die eigene." Auch in der Durchschnittsbevölkerung sei das Vertrauen in die evangelische Kirche höher als das in die katholische.

Religionssoziologe Detlef Pollack (WWU – MünsterVIEW)

Ob dieses Vertrauen erhalten bleibt, hängt nach Pollacks Worten stark vom Umgang der evangelischen Kirche mit der ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt im Raum der evangelischen Kirche und der Diakonie ab. 

Der Umgang der katholischen Kirche mit ihren Missbrauchsfällen sei in dieser Hinsicht ein warnendes Beispiel. In der Öffentlichkeit sei nicht der Eindruck entstanden, dass es den Bischöfen um schonungslose Aufklärung gehe. Sollte die evangelische Kirche hier nicht wesentlich besser agieren, könnte die Studie doch noch für höhere Austrittszahlen sorgen.

Führt Studie nicht zu mehr Austritten?

Ende Januar hatte ein unabhängiges Forschungsteam die ForuM-Studie vorgestellt. Es geht darin von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern aus, vermutet aber eine deutlich höhere Dunkelziffer. Erste, nicht repräsentative Zahlen, die dem epd vorliegen, deuten darauf hin, dass die Veröffentlichung der Studie bislang nicht zu mehr Kirchenaustritten führt. Die Austrittszahlen verharrten demnach auf dem vergleichsweise hohem Niveau der vergangenen Jahre.

EKD-Missbrauchsstudie / © Daniel Pilar (KNA)
EKD-Missbrauchsstudie / © Daniel Pilar ( KNA )

Pollack warnte davor, zu glauben, dass irgendwann diese Zahlen sinken würden, wenn alle Austrittswilligen ausgetreten seien. Je mehr evangelische und katholische Christen zu einer Minderheit würden, desto stärker werde der Sog der Mehrheit. "Wer zu einer Mehrheit gehört, muss sich dafür in der Regel nicht rechtfertigen", sagte er.

Wer Teil einer Minderheit sei, schon. Es hänge vom Stellenwert ab, den Religion für den Einzelnen habe, ob er sich dafür rechtfertigen wolle. Der durchschnittliche Stellenwert von Religion in der heutigen Gesellschaft sei aber gering.

Kirchenstatistik weist hohe Austrittszahlen aus

Die katholische Kirche in Deutschland ist 2022 erneut stark geschrumpft. 522.821 Menschen traten aus der Kirche aus - so viele wie nie zuvor. Dies geht aus der von der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn veröffentlichten allgemeinen Kirchenstatistik hervor. Insgesamt liegt die Mitgliederzahl nun bei rund 20,9 Millionen.

Symbolbild Kirchenaustritt / © Elisabeth Rahe (KNA)
Symbolbild Kirchenaustritt / © Elisabeth Rahe ( KNA )
Quelle:
epd