domradio.de: Die Religiosität in Europa geht insgesamt zurück, besonders in Ländern mit protestantischer Kulturgeschichte sind die Menschen weniger religiös. Ist das ein überraschendes Ergebnis?
Pickel: Eigentlich nicht. Das Ergebnis folgt dem Trend, den wir in verschiedenen anderen Studien der vergangenen Jahre bereits beobachten konnten. Es macht es nur noch mal deutlich, dass wir Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken haben - auf der einen Seite. Und dass wir auf der anderen Seite einen Rückgang haben, von dem eigentlich alle Religionen betroffen sind.
domradio.de: Ein Zitat aus der Studie lautet "Die Protestanten haben die geringsten Glaubenswerte" – was heißt das denn?
Pickel: Fragt man Protestanten, wie religiös sie sich einschätzen, erhält man ungünstigere Antworten als bei den Katholiken. Die stufen sich in der Regel etwas höher religiös ein. Das macht sich auch in religiösen Praktiken fest - Beten, Besuchen von Gottesdiensten.
domradio.de: Schweden wird hier als Beispiel herangezogen: Die Religiosität der Menschen dort liegt, so die Studie, nur noch bei 45 Prozent. Ähnlich sind die Zahlen für Bundesländer in Ostdeutschland – also in protestantisch geprägten Regionen. Wie lässt sich das erklären?
Pickel: Dieser Effekt lässt sich auf Länderebene finden, aber auch innerhalb der Länder: Protestanten besuchen auch in Westdeutschland seltener die Kirche, beten weniger und schätzen sich selber als weniger religiös ein. Zum einen ist das Verhältnis des Protestanten zur Religion sicher anders geprägt, nämlich durch ein individuelles Verhältnis. Das Problem hier ist, es ist angreifbarer. Während man im Katholizismus mehr Wert auf den Gemeinschaftseffekt legt, auch einen gewissen Druck, der zum Gottesdienstbesuch führt. Und wie sich gezeigt hat, sind diese sozialen Einbindungen - ob man sie positiv oder negativ deuten mag - doch erfolgreich gewesen. Allerdings geht auch diese "Haltenote", die die Katholiken erreichen konnten, zurück.
domradio.de: Es wird auch der Vergleich gezogen zu anderen Weltreligionen: Muslime zum Beispiel seien fast zu 100% hoch- oder mittelreligiös. Warum gibt es da so deutliche Unterschiede? Was bringen diese Religionen denn "Bindendes" mit?
Pickel: Wir finden hier eine hohe Vergemeinschaftung. Muslime sind in ihren verschiedenen kleinen Gemeinschaften gebunden. Das führt sicherlich zu einer Stärkung des Glaubens. Dann ist es aber auch so, dass die Regionen mit vielen Muslimen noch keinen allzu großen Grad der Modernisierung erreich haben. Prozesse von Rationalisierung, Bildung und funktionaler Differenzierung sind dort nicht so weit fortgeschritten. Und das tragen jetzt auch viele Muslime im Rahmen der Migration in die westeuropäischen Länder. Und hier kann man dann sehr Interessantes sehen: Es findet eine Anpassung statt. Jüngere Muslime in Deutschland sind weniger religiös als ältere.
domradio.de: Modernisierung ist also gleichbedeutend mit einem Rückgang der Religiosität?
Pickel: Modernisierung, und das ist eine ganz klassische These in der Religionssoziologie, geht davon aus: Wenn ich Religion benötige, suche ich nach etwas, das Sicherheit spendet. Und im Rahmen zunehmenden Wohlstands brauche ich das nicht mehr. Dort wo Menschen mehr Geld haben, benötigen sie weniger Religion. Es gibt aber auch weitere Effekte: Mit der Modernisierung steigert sich auch der Grad der Bildung und der Mobilität, beide Faktoren sind den Religionen nicht zuträglich. Bildung führt zu einer kritischeren Haltung, mit steigender Mobilität verlieren die sozialen Vergemeinschaftungsformen an Einfluss - bei Umzügen beispielsweise, wo sie nicht mehr so schnell den Anschluss an die neue Gemeinde finden.
Das Gespräch führte Verena Tröster.