Leonor García war acht Jahre alt, als sie und ihr jüngerer Bruder an Tuberkulose erkrankten und in ein von der katholischen Kirche geleitetes Sanatorium in Bilbao kamen. Regelmäßig habe ein Pfarrer nachts die Schlafräume aufgesucht, erzählt die heute 58-Jährige, habe "in ihrem Geschlecht herumgewühlt", so sagt sie es.
Sie leidet bis heute unter dem Trauma. Jetzt sollen in Spanien zwei Untersuchungskommissionen den sexuellen Missbrauch durch katholische Geistliche aufklären.
Von Tageszeitung angestoßen
Ohne die Recherchen von "El País", der größten spanischen Tageszeitung, wäre es wohl nie so weit gekommen. 2018 bildete die Zeitung ein Rechercheteam. In vielen anderen katholisch geprägten Ländern seien Missbrauchsfälle bekannt geworden, offizielle Untersuchungen eingeleitet worden, aber nicht in Spanien, erklärt El País-Redakteur Íñigo Domínguez, der dem Rechercheteam angehört hat.
Die Zeitung berichtete daraufhin über die 34 Fälle, die bis dahin zur Anzeige gekommen waren.
"Das ist eine lächerliche Zahl", sagt Domínguez. Die Zeitung bat mögliche Missbrauchsopfer, ihr zu schreiben. "In einer Woche bekamen wir 300, 400 Zuschriften", berichtet Domínguez. Auch Leonor García schrieb eine E-Mail.
Der Geistliche habe bei der Abnahme der Beichte im Beichtstuhl masturbiert, die Mädchen nachts im Schlafraum aufgesucht, zu sich auf den Schoß gezogen und dabei unter den Schlafrock gegriffen, sagt sie über einen Mann, den sie sonst als liebevoll erlebt habe, der beliebt gewesen sei. Eines Nachts aber sprachen die Mädchen sich ab. Sie hätten sich wie Mumien in die Decken eingehüllt und sie bis über den Kopf gezogen, erinnert sie sich 50 Jahre später in ihrer Wohnung in Madrid. Eine Erzieherin habe dies gesehen und nach dem Verhalten der Mädchen gefragt. Nachdem sie ihr gesagt hätten, dass der Pfarrer sie nachts "besuche", hätten sie ihn nie wieder gesehen, sagt Leonor García.
Lange Zeit habe sie nicht begriffen, dass sie Opfer sexualisierter Gewalt gewesen sei. Sie sei später zu einer überzeugten Kämpferin für die Rechte von Frauen geworden, wollte stark sein, kein Opfer. Doch körperliche Nähe habe sie nie ertragen. "Das haben sie uns genommen, die Schönheit der Sexualität." Sie habe zwar später zwei Kinder bekommen, sich aber immer gegen körperliche Nähe gewehrt, nicht nur durch ihren Partner, sondern auch gegen Umarmungen von Freunden.
"El País" hat seit 2018 die Fälle von insgesamt 1.594 Opfern wie Leonor García dokumentiert. 840 katholische Geistliche und kirchliche Mitarbeiter sind darin beschuldigt. Ein Redakteur der Zeitung überreichte Papst Franziskus bereits vor einem Jahr einen ersten Überblick der Recherchen.
Bistümer beteiligen sich nicht alle an Aufklärung
Die Fälle wurden für die katholische Kirche in Spanien zu einer Zerreißprobe. Manche Bistümer beteiligen sich an einer Aufklärung, andere sperren sich. Eine Dunkelziffer benennt niemand, in einem Land, in dem die Kirche bei der Schulerziehung traditionell eine große Rolle spielt.
Die meisten der heute bekannten Fälle sind verjährt. Erst nach einer Gesetzesreform vom vergangenen Jahr beginnt nun die Verjährungsfrist von 30 Jahren bei schweren Sexualstraftaten gegen Minderjährige erst dann, wenn das Opfer 30 Jahre alt geworden ist, nicht wie bislang ab dem 18. Lebensjahr.
Spaniens Bischofskonferenz animierte die einzelnen Bistümer zwar, die Fälle zu untersuchen, doch dies hatte nicht überall Konsequenzen.
Der katholische Theologe Juan José Tamayo beschuldigte die Kirche in einem Kommentar in "El País" der Ambivalenz: Die Kirche bitte um Vergebung, öffne ihre Archive aber nicht für eine unabhängige Untersuchung, schrieb Tamayo.
Tatsächlich hat die katholische Bischofskonferenz erst nach großem öffentlichem Druck im Februar ein Anwaltsbüro mit der Untersuchung des Missbrauchs beauftragt. Doch viele Opfer lehnen das Vorhaben ab, weil der Chef des Anwaltsbüros, Javier Cremades, selbst Mitglied des katholischen Ordens Opus Dei ist, gegen den es ebenfalls Vorwürfe gibt. Der Anwalt bittet um Vertrauen und hofft, dass die Bistümer für seine Kommission nun auch ihre Archive öffnen werden.
Staat beteiligt sich an Aufklärung
Aufklärung könnte aber jetzt auch von staatlicher Seite kommen: Am 6. Juli hat eine staatliche Untersuchungskommission ihre Arbeit aufgenommen. Ihr steht der Ombudsmann der Regierung vor, Ángel Gabilondo, ein staatlicher Beauftragter für Bürgerinnen und Bürger.
Der 73-jährige ehemalige Philosophie-Professor und Erziehungsminister Gabilondo war allerdings bis zu seinem 30. Lebensjahr selbst Mitglied in einer katholischen Ordensgemeinschaft, weshalb manche Opfer auch ihn skeptisch sehen.
Gabilondo warnt die Kirche davor, der staatlichen Untersuchungskommission keinen Zugang zu ihren Archiven zu gewähren.
"Manche arbeiten aktiv daran, dass wir nicht vorwärtskommen", klagte er in einem Interview mit "El País". Die katholische Bischofskonferenz wolle sich nicht an der Untersuchung beteiligen.
Leonor García hofft dennoch: "Dank seiner Fähigkeit zum Dialog und Zuhören kann der Ombudsmann die notwendige Brücke zum Dialog zwischen den Opfern, der Kirche und der Zivilgesellschaft werden." In ihrem Fall hatte auch die katholische Kirche im Bistum Bilbao Hilfe und ein Gespräch angeboten. Sie war einverstanden, dass auch ein Geistlicher dabei war. Auf ihre Frage, ob aus dem Sanatorium mehr Fälle bekannt geworden seien, habe der Geistliche gesagt: "Wenn es einen Fall gab, gab es mehr."