Gegen eine Verabsolutierung des staatlichen Neutralitätsgebotes in Religionsfragen hat sich der Göttinger Rechtsgelehrte Hans Michael Heinig ausgesprochen. In einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Montag) erinnert der protestantische Staatsrechtler daran, dass der Grundsatz der Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften in verschiedenen Ländern unterschiedlich gesehen und gehandhabt werde.
Dabei spielten stets auch historische Erfahrungen mit. Die Weimarer und Bonner Verfassungsgeber hätten "bewusst keine Trennung von Staat und Kirche nach französischem Vorbild" gewollt, sondern "strebten eine 'schiedlich-friedliche' Scheidung an".
Öffentliche Auseinandersetzung hat mit staatlicher Neutralität nichts zu tun
"Es wäre naiv, solche historischen Einflüsse einfach tilgen zu wollen", so Heinig. Zugleich betont er, das Neutralitätsgebot diene in erster Linie dem Schutz der Rechte des Einzelnen. Die Neutralität des Staates auch da einzufordern, wo keine Rechte Dritter oder andere Verfassungsgüter betroffen seien, wäre nach Meinung des Staatsrechtlers "im Ansatz verfehlt". Neutralität sei "keine Norm, aus der sich einfache Antworten auf Religionskonflikte ableiten lassen."
Zugleich wendet sich Heinig gegen Tendenzen, das staatliche Neutralitätsgebot in Religionsfragen auf die gesamte öffentliche Debatte auszuweiten und argumentiert: "Die gesellschaftlichen Kräfte sind anders als die öffentliche Gewalt nicht zur religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet." Die öffentlichen Auseinandersetzungen mit bestimmten Religionen, etwa dem Islam, müssten deshalb nicht unterbunden werden, "selbst wenn sie scharf im Ton und oft auch unfair in der Sache ausgetragen werden".
Negative Religionsfreiheit ist auch schutzwürdig
Dies gilt nach den Ausführungen Heinigs ausdrücklich auch für islamfeindliche Äußerungen aus der Bevölkerung oder aus der AfD. Die Grenze des rechtlich Zulässigen werde "erst durch die Beleidigungsdelikte und den Straftatbestand der Volksverhetzung markiert."
Heinig geht auch auf die Debatte um die Nichtanerkennung islamischer Verbände durch staatliche Organe ein. Er argumentiert, der Staat dürfe von den Muslimen zwar keine "kirchenanalogen Strukturen" verlangen. Er dürfe aber sehr wohl die Kooperation mit ihnen davon abhängig machen, dass sie sich als Religionsgemeinschaften "mitgliedschaftlich verfassen", denn dies diene dem Schutz der negativen Religionsfreiheit der Nichtmitglieder. Deshalb verlange das Grundgesetz "Klarheit in der Frage, wer in religiösen Dingen für wen zu sprechen befugt ist."