Es war eine Demütigung für Frankreich: Im Spiegelsaal von Schloss Versailles bei Paris proklamierten die deutschen Fürsten am 18. Januar 1871 den preußischen König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser. Kanzler des neu gegründeten Deutschen Reichs wurde Otto von Bismarck.
Vier Monate zuvor hatte Frankreich die entscheidende Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg erlitten. Die Kämpfe hatten die deutschen Länder zusammenwachsen lassen und so den Weg zur Gründung eines deutschen Nationalstaats geebnet. In der Luft lag er schon lange - Nationalismus und Liberalismus zählten zu den großen Ideen des 19.
Jahrhunderts.
"Kanzlerdiktatur" bei Otto von Bismarck?
"Revolutionen machen in Preußen nur die Könige" - nach diesem Prinzip zimmerte Otto von Bismarck den neuen Staat. Von parlamentarischer Mitbestimmung hielt er wenig. Kritiker sprachen von einer "Kanzlerdiktatur", und selbst Wilhelm I. gestand: "Es ist nicht leicht, unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein." Immerhin: Auf Reichsebene gab es ein vergleichsweise modernes Wahlrecht. Und es wurde immer wieder über die Mitbestimmungsrechte des Parlaments debattiert.
Aber warum die Kaiserproklamation gerade an diesem geschichtsträchtigen Ort? "Als bewusste Demütigung war die Ortswahl nicht geplant", sagt Mareike König vom Deutschen Historischen Institut Paris. Zwar sollte eine historische Rechnung beglichen werden, denn Ludwig XIV. hatte rund 200 Jahre vorher das Elsass und Lothringen annektiert. Symbolisch habe der Akt im Schloss des "Sonnenkönigs" als Erniedrigung Frankreichs gewirkt.
Praktische Gründe für den Ort der Kaiserproklamation
Doch die Historikerin nennt eher praktische Gründe: Versailles war das Hauptquartier des deutschen Generalstabs. Weitreichendere Folgen habe die deutsche Annexion des Elsass und von Teilen Lothringens 1871 gehabt. "Sie stand einer Aussöhnung zwischen beiden Ländern deutlich stärker im Weg als die Kaiserproklamation", sagt die Fachfrau für deutsch-französische Geschichte.
Im neuen deutschen Staat konnten die alten Machteliten wie Adel und Großgrundbesitz ihre Herrschaft aufrechterhalten. Auch die evangelischen Landeskirchen mit dem regierenden Monarchen an der Spitze wirkten durch dieses Bündnis von Thron und Altar als Stabilisator des Obrigkeitsstaates.
Antisemitismus als mögliche Reaktion auf Orientierungslosigkeit
Zugleich begann die Epoche der Moderne. Technische Neuerungen bestimmten immer stärker den Alltag. Automobil und Luftschiff, Röntgenstrahlen und Röhrensender, Gasturbine und Kohleverflüssigung - es war eine Zeit des raschen Wandels, zunehmend wurde die Welt global gedacht und erlebt. Aber sie wurde auch unübersichtlicher: Während viele den Fortschritt begeistert begrüßten, fühlten sich andere orientierungslos.
Eine mögliche Reaktion: Antisemitismus. Die Suche nach einem Sündenbock für Fehlentwicklungen wurde durch antijüdische Hetze befeuert, besonders des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker. Der Antisemitismus formierte sich in mehreren Parteien, die bereits 1899 eine "Vernichtung des Judenvolkes" im Programm hatten, vier Jahrzehnte vor dem nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden.
Debatte um den "deutschen Sonderweg"
Die Juden gehörten zu jener Minderheit, die Bismarck als "Reichsfeinde" bezeichnete. Sie wurden gegen die "Reichsfreunde" ausgespielt - eine Herrschaftstechnik, die der Kanzler nutzte, um innere Konflikte zu überspielen, wie Hans-Ulrich Wehler darlegte. Der 2014 gestorbene Historiker sah hier eine Kontinuität: Von den "Reichsfeinden" führe ein Weg zur "Reichskristallnacht" und ebenso zur "Volksgemeinschaft", der die angeblichen "Feinde" nicht angehörten.
Damit ist die geschichtswissenschaftliche These vom "deutschen Sonderweg" verbunden. Demnach unterschied sich die Entwicklung in Deutschland von der in den meisten anderen europäischen Staaten und führte in die NS-Diktatur. Diese Sonderweg-These wird allerdings "so längst nicht mehr behauptet", wie Mareike König sagt. "Heute betont die Forschung die Verbindungslinien zum Nationalsozialismus deutlich weniger." Nicht nur in Deutschland, sondern ebenso etwa in Frankreich sei es nach 1870/71 um die Frage gegangen, wer zur Nation dazugehört und wer nicht. "Das sind in Teilen Prozesse der Nationenbildung und finden sich so auch anderswo."
Militaristisches Denken und Handeln
In Deutschland hatten militärische Erfolge den Weg zur Reichsgründung geebnet. Entsprechend war das Prestige des Militärs und der Dünkel der Offizierskaste. Das Heer bildete einen Staat für sich: Es stand außerhalb der Verfassung, denn es unterlag keiner parlamentarischen Kontrolle.
Vor dem Ersten Weltkrieg machten die Ausgaben für das Militär drei Viertel des Reichsetats aus. Militaristisches Denken und Handeln durchdrangen Staat und Gesellschaft, das begann schon beim Drill im Turnunterricht. Begegnete ein Zivilist einem Offizier auf dem Bürgersteig, wich der Zivilist üblicherweise aus.
Gründung einer Republik, Denkmuster bleiben aber
All dies mündete 1914 bei vielen in rauschhafte Kriegsbegeisterung. Vier Jahre später war das Kaiserreich am Ende, die Weimarer Republik wurde gegründet. Denkmuster wie Demokratiefeindschaft oder Antisemitismus jedoch blieben.
Gleichzeitig gilt aber auch, dass im Kaiserreich Demokratie eingeübt wurde: Mareike König spricht von einer "grundsätzlichen Politisierung der Bevölkerung" und einem "Willen zur Demokratisierung". Und betont: "Es gibt keinen zwangsläufigen Weg vom Kaiserreich in den Ersten Weltkrieg und von dort in den Nationalsozialismus, es hätte auch anders kommen können."