Historiker Conze zu 100 Jahre Friedensvertrag von Versailles

Sehr präsentes Stück Vergangenheit

Er sollte den Ersten Weltkrieg beenden: Am 28. Juni 1919 wurde der Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet. Im Interview blickt der Marburger Historiker Eckart Conze auf Entstehung und Nachleben des Vertragswerks.

Die "Großen Vier" von 1919, die über den Inhalt des Versailler Vertrages nahezu allein entschieden (l-r)\ Die Ministerpräsidenten David Lloyd George (England), Vittorio Emanuele Orlando (Italien), Georges Benjamin Clemenceau (Frankreich) und der us-amerik / © N.N. (dpa)
Die "Großen Vier" von 1919, die über den Inhalt des Versailler Vertrages nahezu allein entschieden (l-r)\ Die Ministerpräsidenten David Lloyd George (England), Vittorio Emanuele Orlando (Italien), Georges Benjamin Clemenceau (Frankreich) und der us-amerik / © N.N. ( dpa )

KNA: Dem Vertrag von Versailles gingen harte, mehrmonatige Verhandlungen voraus. Deutschland als Kriegsverlierer blieb dabei außen vor, hatte die Bestimmungen nur entgegenzunehmen. Wie würden Sie die Atmosphäre bei der Vertragsunterzeichnung am 28. Juni 1919 umschreiben?

Eckart Conze (Historiker): Es gab durchaus Erleichterung auf allen Seiten, weil mit diesem und vier weiteren Verträgen der Erste Weltkrieg tatsächlich beendet wurde. Aber in diese Erleichterung mischten sich rasch Enttäuschung und Verbitterung. Gerade die Deutschen hatten ganz andere Erwartungen. Ihnen wurde erst jetzt klar, dass sie den Krieg verloren hatten.

KNA: Gab es Vorbilder, an denen sich die Verhandlungen orientierten?

Conze: Der letzte große europäische Friedensschluss war der Wiener Kongress 1814/15. Er wollte nach den Napoleonischen Kriegen eine stabile internationale Ordnung schaffen - und das ist bis zu einem gewissen Grade ja auch gelungen. Deswegen wollte man sich die Wiener Erfahrungen nutzbar machen.

KNA: Aber?

Conze: Es stellte sich sehr schnell heraus: Die Bedingungen waren jetzt ganz andere. Der Erste Weltkrieg als moderner Vernichtungskrieg machte einen Friedensschluss ungleich schwerer. Hinzu kam, dass die Öffentlichkeit auf die Gespräche einwirkte und das Medien und medialer Druck eine enorme Rolle spielten. Auch die Unterhändler versuchten, beispielsweise mit geleakten Informationen, den Gang der Dinge in ihrem Sinne zu beeinflussen.

KNA: Derartige Methoden werden bis heute praktiziert.

Conze: Das ist eine Entwicklung, die sich durch das ganze 20. und das beginnende 21. Jahrhundert zieht. Geändert hat sich nur, dass die Kommunikation noch schneller, ihre Reichweite noch größer, der Druck der Medien auf politisches Handeln noch stärker geworden ist. Im Zeitalter von Youtube, Facebook und Co bleibt es die Herausforderung an die Politik damit konstruktiv umzugehen.

KNA: Kehren wir noch einmal in die Vergangenheit zurück. Eine prägende Figur der Verhandlungen in Frankreich war US-Präsident Woodrow Wilson. Was trieb ihn an?

Conze: Der ausgesprochen charismatische Wilson verkörperte das amerikanische Selbstbewusstsein als aufsteigende Weltmacht. Ihm ging es um eine neue friedliche und demokratische globale Ordnung - die zugleich den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen seines Landes in die Karten spielen sollte.

KNA: Wie präsent ist die Erinnerung an Wilson in den USA?

Conze: Auch wenn sich in der Außenpolitik von Bill Clinton oder Barack Obama durchaus Anklänge an die idealistische Politik von Wilson finden lassen, gilt er mit seinen ambitionierten Vorstellungen als gescheitert.

KNA: Warum?

Conze: Weil er der Ordnung von 1919 seinen Stempel nicht aufzudrücken vermochte. Die USA beteiligten sich nach der Unterschrift unter den Vertrag von Versailles eben nicht an der von ihm angestrebten neuen Weltordnung, etwa am Völkerbund, der ja ganz maßgeblich auf ihn zurückging.

KNA: Wie fällt aus Ihrer Sicht ein Vergleich zwischen dem Völkerbund und den Vereinten Nationen aus, die 1945 an seine Stelle traten?

Conze: Die Vereinten Nationen sahen sich durchaus in der Tradition des Völkerbundes, versuchten aber, aus dessen Schwächen zu lernen.

KNA: Wie meinen Sie das?

Conze: Der Völkerbund, der 1920 seine Arbeit aufnahm, war der erste Versuch einer globalen Staatenorganisation, wies aber eine Reihe von Geburtsfehlern auf.

KNA: Zum Beispiel?

Conze: Der Ausschluss von Kriegsverlierern beeinträchtigte die Durchsetzungsfähigkeit des Völkerbundes gerade in der Frühphase. Dann gehörten ihm im Grunde genommen nie alle Großmächte an: Die USA waren lange Zeit kein Mitglied, Deutschland trat erst Mitte der 1920er- Jahre bei und 1933 wieder aus. Das wiederum leistete einer Politik Vorschub, die sich nicht an gemeinsamen Zielen orientierte, sondern zunehmend aggressiv an engen nationalen Interessen. Diese Renationalisierung der Politik führte in den 30er-Jahren zur Zerstörung des Völkerbundes.

KNA: Experten warnen aktuell vor ähnlichen Entwicklungen mit Blick auf die Zukunft der Vereinten Nationen.

Conze: Parallelen sind unverkennbar. Russland, China und immer stärker die USA kehren zu einer Politik des Unilateralismus zurück - Verstöße gegen das Völkerrecht inklusive - und tragen dadurch zur Erosion der UN bei.

KNA: Von Konflikten bis zu Reparationen - was bleibt vom Versailler Vertrag?

Conze: Die Reparationszahlungen wurden 1932 komplett eingestellt, die Weimarer Republik konnte davon leider nicht mehr profitieren. Allerdings hatte Deutschland bis in die jüngste Vergangenheit hinein noch Zinsleistungen aus den Reparationskrediten der 1920er-Jahre zu bedienen. Was Konfliktherde anbelangt, so beschäftigt uns neben den Spannungen im Nahen Osten noch immer das Erbe des jugoslawischen Staates, der 1918/19 gegründet wurde und sich nach 1990 in Krieg und Gewalt auflöste. Daran zeigt sich, dass es sich bei Versailles nicht um ein historisch abgeschlossenes Kapitel handelt, sondern um eine in die Gegenwart hineinragende Vergangenheit.

KNA: Es fällt schwer, Versailles losgelöst von der nachfolgenden Entwicklung zu betrachten, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündete. Bot das Vertragswerk auch reelle Chancen auf einen anderen Verlauf der Geschichte?

Conze: Geschichte ist immer offen. Nichts war 1919 vorherbestimmt. Deutschland blieb eine potenzielle Großmacht trotz der unbestritten harten Bedingungen. Der Vertrag ließ viele Fragen ungeregelt; man konnte mit ihm sowohl konfrontativ als auch kooperativ umgehen. Für Ersteres steht die Besetzung des Ruhrgebiets durch belgische und französische Truppen 1923, für Letzteres die deutsch-französische Annäherung Mitte der 20er-Jahre.

KNA: Spielte eigentlich der Papst irgendeine Rolle bei den Verhandlungen 1919?

Conze: Der Vatikan hat durchaus versucht, sich als Akteur zu beteiligen. Aber das ist nicht gelungen. Zu groß war das Misstrauen aller Beteiligten wegen einer möglichen Parteilichkeit. Bei der Siegermacht Italien gab es Befürchtungen, der Papst könne die Gelegenheit nutzen, die Position des Kirchenstaates zu verbessern. Gleichwohl hat Benedikt XV. die Ereignisse sehr aufmerksam verfolgt. Das zeigt die Friedensenzyklika "Pacem, Dei munus pulcherrimum" von 1920.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Quelle:
KNA