KNA: Was macht eine Sterbeamme?
Karin Simon (Krankenschwester, Liedermacherin und Sterbeamme): Die Frage höre ich öfters. Eine Sterbeamme ist im Prinzip nichts anderes als eine Hebamme. Die Hebamme bringt einen Menschen auf die Welt, die Sterbeamme bringt einen Menschen hinüber - in ein neues Leben, wie ich glaube. Für mich ist an diesem Punkt nicht Schluss, sondern das Sterben ist ein Übergang in eine andere Dimension.
KNA: In welcher Situation kann man sich an Sie wenden?
Simon: Sterbeammen kommen nach Hause - im Gegensatz zu Hospizlern, die meistens im Krankenhaus tätig sind. Wenn die Oma oder der Lebensgefährte sagt: "Ich möchte zu Hause sterben", dann werden wir angerufen. Viele Menschen fühlen sich in dieser Situation hilflos, und wir schauen gemeinsam, was ich tun kann.
Meistens habe ich im ersten Moment mehr mit den Angehörigen zu tun, um sie aus ihrer Hilflosigkeit herauszuholen. Es belastet sie, dass sie nichts mehr tun können, und sie müssen sich damit abfinden, dass die Mama oder der Papa nun gehen muss.
KNA: Viele Menschen wünschen sich, in den eigenen vier Wänden zu sterben - doch bei einem Großteil ist das nicht der Fall. Woran liegt das?
Simon: Die meisten Menschen kennen Hospiz-Angebote, setzen sich mit dem Tod aber nicht auseinander. Wenn er dann kommt, kommt er urplötzlich. Wichtig ist: Eine Sterbeamme hat auch mal 24 Stunden Zeit, wenn es Spitz auf Knopf steht. An meinem Bett liegt immer ein Notfallhandy, auf dem ich erreichbar bin. Über die Seite www.sterbeamme.de können Betroffene entsprechende Angebote in der näheren Umgebung finden. Wenn der Kontakt nicht erst entsteht, wenn jemand schon im Sterben liegt, sondern etwa schon bei der Diagnosestellung, dann kann die Sterbeamme auch zur Lebensamme werden.
KNA: Was bringen Sterbeammen mit?
Simon: Die Ausbildung dauert zwei Jahre - und sie ist das Intensivste, was ich in meinem Leben gemacht habe. Man bringt einen großen Werkzeugkoffer mit. Claudia Cardinal hat dieses Konzept vor über 20 Jahren entwickelt, nachdem ihr sechsjähriges Kind gestorben war. Sie sagt, sie war so allein im Sterbe- und Trauerprozess, dass sie etwas ändern wollte - und entsprechend umgeschult hat. Sterbeammen sind überkonfessionell, ich gehöre keiner Religion an, auch wenn ich tiefgläubig und sehr spirituell bin.
KNA: Ergeben sich aus der Begleitung mitunter auch längerfristige Kontakte?
Simon: Wenn die Menschen aufgeschlossen sind, kann es bis ins Trauerjahr gehen. Ich bin auch Traueramme und freie Trauerrednerin - ich kann also das Komplettpaket übernehmen. Wichtig ist, darüber zu sprechen. Eine meiner ersten Fragen lautet: Habt ihr schon mal über das Sterben gesprochen? - Nee, das trauen wir uns nicht, ist meist die Antwort. Die Angehörigen wollen der Oma nicht sagen, dass sie sterben wird - und die Oma will ihnen nicht sagen, dass sie sterben möchte. Das ist die Tabumauer, die ich durchbrechen möchte.
KNA: Warum sollte ein junger, gesunder Mensch über den Tod nachdenken?
Simon: In dem Moment, in dem wir geboren werden, sind wir Sterbende. Das heißt, jeder und jedem von uns tut es gut, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Man weiß schließlich nie, wann der Tod anklopft. Ein junger Mensch kann einen Unfall haben, ein 40-Jähriger kann den plötzlichen Herztod erleiden.
Wer sich mit der Endlichkeit des Lebens beschäftigt, lebt anders, bewusster, nimmt den Augenblick stärker wahr - es stellt das Leben auf den Kopf. Und wenn man auf dem Kopf steht, fällt das ganze Glump - so sagt man in Bayern -, also all das unnötige Zeug aus den Taschen. Das Leben wird leichter. Deshalb muss Sterben wieder eine Normalität werden. Die Haltung "Deckel drauf" ist nicht gesund.
KNA: Zugleich ist der Tod etwa in TV-Krimis omnipräsent. Woher kommt dieser Widerspruch?
Simon: Dahinter steckt Angst. Die Menschen wissen nicht, wo es hingeht. Die Gesellschaft ist dabei, ihren Glauben zu verlieren. Für mich ist das Leben eine Zwischenstufe in etwas Größerem; ich lebe hier, um etwas zu lernen. Aber wer meint, dass nach dem Tod gar nichts mehr kommt, bekommt Angst. Deshalb wurde der Tod in eine Ecke gedrängt. Aber er ist da, in jedem Moment. Das Einzige, was hilft, ist, ihn anzuschauen und ihn zu einem Verbündeten, vielleicht sogar
zu einem Kumpel zu machen.
KNA: Wie kann man anfangen, über diese Fragen nachzudenken?
Simon: Es ist sinnvoll, von Anfang an offen mit dem Tod umzugehen. Ich rate allen: Lasst die Kinder zur sterbenden Oma, nehmt sie mit an den offenen Sarg und auf den Friedhof. Auch für Erwachsene wäre es wichtig, einen Verstorbenen noch einmal zu berühren, einzucremen, zu spüren, wie der Körper kalt wird. Das kann für den Trauerweg einen wertvollen Beitrag leisten.
Wichtig ist darüber hinaus, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Hilfreiche Fragen können sein: Wovor habe ich Angst? Was macht es mit mir, wenn ich mir vorstelle, dass der Tod vor der Tür steht? Meditieren und Yoga sind sinnvoll, ebenso der Austausch mit Gleichgesinnten oder die Auseinandersetzung mit den Antworten der Religionen. All dies stärkt das Vertrauen auf die innere Stimme - und die wiederum hilft, angemessen zu reagieren.
KNA: Kann man von Sterbenden etwas lernen?
Simon: Wenn man einmal miterlebt hat, wie ein Mensch stirbt, dann verändert sich etwas. Es wird einem bewusst: Auch ich werde einmal auf dem Sterbebett liegen. Das kann ein Anstoß sein, das eigene Leben zu reflektieren und unerledigte Dinge zu erledigen, wie es die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross formuliert hat. Man lernt zu verzeihen, notwendige Tränen zu weinen und einen angemessenen Umgang mit Wut und Schuldgefühlen zu finden.
KNA: Könnte sich in der Gesellschaft auch durch die Erfahrungen während der Corona-Pandemie etwas verändern?
Simon: Die Menschen haben eher noch mehr Angst bekommen, und Corona hat auch sonst die Gesellschaft gespalten. Für die Angehörigen derjenigen, die gerade zu Beginn der P
andemie gestorben sind, war es furchtbar, sich nicht verabschieden zu können. Dieser Schritt fehlt ihnen massiv.
Heute sterben ebenfalls viele Menschen sehr alleine, auch weil das Pflegepersonal keine Zeit mehr hat. Ich war selbst Krankenschwester, und die Zustände sind unmenschlich. Das Personal geht seit Jahrzehnten auf dem Zahnfleisch.
KNA: Sie begegnen dem Tabuthema Tod auch mit Humor, insbesondere in Ihrem Sterbekabarett "Zum Sterben schön". Wie passt beides zusammen?
Simon: Meine Antwort lautet: warum eigentlich nicht? - Meine erste Begleitung betraf meine beste Freundin, und wir haben Party gemacht bis zum Schluss. Ich habe Rotwein für sie eingefroren, damit sie ihn als Eis lutschen konnte. Ich glaube: Wenn wir sterben, gehen wir nach Hause. Und alles verliert seinen Schrecken, wenn man ihm ins Gesicht lacht.
Das Interview führte Paula Konersmann.