Steuert Georgien nun in Richtung Russland?

Massenproteste und teils Neuauszählung der Stimmen in Georgien

Zehntausende protestierten in Georgien gegen das Wahlergebnis - ihr Vorwurf: Wahlbetrug. Ein Teil der Stimmen soll nun neu ausgezählt werden. Beobachter sehen das Land vor einer Richtungsentscheidung.

Autor/in:
Bernhard Clasen
Aufgemalte Flaggen Europas und Georgiens an einer Wand / © EvaL Miko (shutterstock)
Aufgemalte Flaggen Europas und Georgiens an einer Wand / © EvaL Miko ( shutterstock )

Zehntausende Georgier, darunter auch Präsidentin Salome Surabischwili, haben am Montagabend vor dem Parlament in Tiflis gegen das offizielle Wahlergebnis demonstriert. Die Wahlkommission hatte am Sonntag die Regierungspartei "Georgischer Traum" mit 54 Prozent der Stimmen zur Siegerin erklärt. Die Opposition und Präsidentin Surabischwili erkennen die Ergebnisse nicht an. Sie sehen eine Wahlfälschung und fordern Neuwahlen. Zudem erklärten alle vier Oppositionsparteien, das Parlament boykottieren zu wollen.

Unterdessen kündigte die Wahlkommission an, die Stimmzettel in rund 14 Prozent der Wahllokale neu auszählen zu lassen. Die Neuauszählung solle an diesem Dienstag stattfinden und werde in fünf zufällig ausgewählten Wahllokalen in jedem Wahlbezirk vorgenommen, hieß es.

Demonstranten schwenken georgische und ukrainische Nationalflaggen in Tiflis. Die Opposition hatte zum Protest gegen die Ergebnisse der Parlamentswahl aufgerufen. / © Zurab Tsertsvadze/AP/dpa (dpa)
Demonstranten schwenken georgische und ukrainische Nationalflaggen in Tiflis. Die Opposition hatte zum Protest gegen die Ergebnisse der Parlamentswahl aufgerufen. / © Zurab Tsertsvadze/AP/dpa ( dpa )

EU reagiert zurückhaltend auf Manipulationsvorwürfe

Stephan Malerius, Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tiflis, sagte der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), kaum jemand habe mit einem deutlichen Sieg des "Georgischen Traums" gerechnet; Umfragen hätten die Partei bei 35 Prozent gesehen. "Inzwischen geht man davon aus, dass die Wahlen in großem Stil gefälscht worden sind. Wir sprechen von weit über 200.000 Stimmen, etwa 12 Prozent. Die sind entweder dem 'Georgischen Traum' dazugeschrieben worden oder wurden der Opposition weggenommen."

Die Reaktionen der Europäischen Union fielen bislang zurückhaltend aus. Die EU-Kommission verwies auf die Einschätzungen der internationalen Wahlbeobachtungsmission unter Leitung der OSZE. Dieser zufolge sei der Wahltag "im Allgemeinen verfahrenstechnisch gut organisiert und geordnet durchgeführt" worden, jedoch durch ein "angespanntes Umfeld, häufige Verletzungen des Wahlgeheimnisses und einige verfahrenstechnische Ungereimtheiten" gekennzeichnet gewesen. Ausgerechnet Viktor Orban, noch bis Jahresende EU-Ratspräsident, war symbolträchtig und auf Einladung der Regierung kurz nach den Wahlen in Tiflis eingetroffen.

Regierungschef bezeichnet EU-Beitritt als Priorität

Die Führungen von Georgiens Nachbarländern, Armenien und Aserbaidschan, gratulierten dem "Georgischen Traum" zum Wahlsieg. Auch in Russland zeigte man sich erfreut über das umstrittene Ergebnis. Gleichwohl will die georgische Regierung dem Vorwurf der Opposition, prorussisch zu sein, den Wind aus den Segeln nehmen. Regierungschef Irakli Kobachidse erklärte am Tag nach der Wahl, Russland halte zehn Prozent des georgischen Territoriums besetzt, weswegen man keine Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau plane. Er betonte, der EU-Kurs habe für die Regierung oberste Priorität.

Für viele sind derartige Äußerungen nur schöne Worte. Zu gut erinnert man sich an das "Gesetz gegen ausländische Einflussnahme", das Nichtregierungsorganisationen und Medien zwingt, sich als "Vertreter ausländischer Interessen" registrieren zu lassen und das Gesetz gegen "LGBT-Propaganda". Beide Gesetze sind vergleichbar mit ähnlichen restriktiven Gesetzen in Russland.

Neuwahlen oder autoritärer Kurs?

Der baptistische Bischof von Tiflis, Malkhaz Songulashvili, sieht nur zwei Optionen. Möglicherweise werde die Regierung auf den zunehmenden Druck sowohl von internationalen Verbündeten als auch von Stimmen im eigenen Land reagieren und Neuwahlen unter strenger internationaler Aufsicht ansetzen, sagte er der KNA. Wahrscheinlicher sei aber, dass Georgien zunehmend in Richtung eines autoritären Modells drifte. Ein autoritärer Kurs berge das Risiko, Georgien von der EU und der internationalen Gemeinschaft zu isolieren.

"Bei diesem Szenario wird es unvermeidlich zu engeren Beziehungen zur Russischen Föderation kommen, ungeachtet des weit verbreiteten Widerstands in der Bevölkerung", sagte Songulashvili. "Eine solche Neuausrichtung stünde im Widerspruch zur georgischen Verfassung, die ausdrücklich die euro-atlantische Integration des Landes bekräftigt." Für viele Georgier bedeute die Bindung an Europa nicht nur wirtschaftliche und politische Chancen, sondern auch den Schutz von Menschenrechten und demokratischen Freiheiten.

"Die Herausforderung für Georgiens Verbündete wird darin bestehen, sich für demokratische Reformen einzusetzen und die Bestrebungen des georgischen Volkes zu unterstützen", sagte der Bischof. Dieses habe wiederholt seinen Wunsch nach einer Zukunft im Einklang mit europäischen Werten und nicht unter russischem Einfluss geäußert.

Georgien

Georgien ist ein Staat in Vorderasien am Schwarzen Meer südlich des Kaukasus mit rund 4,9 Millionen Einwohnern. Die Hauptstadt Tiflis liegt auf demselben Breitengrad wie Rom. 1918 erklärte sich Georgien erstmals für unabhängig. 1922 wurde es ein Teil der Sowjetunion, 1991 wieder unabhängig. Georgien ist eine parlamentarische Demokratie. Staatsoberhaupt ist seit November 2013 Präsident Giorgi Margwelaschwili, Regierungschef seit Juni 2018 Mamuka Bakhtadze. 

Blick auf Georgiens Hauptstadt Tiflis / © Markus Nowak (KNA)
Blick auf Georgiens Hauptstadt Tiflis / © Markus Nowak ( KNA )
Quelle:
KNA