DOMRADIO.DE: Könnten Sie die Situation in Ihrem Land nach der Wahl beschreiben?
Anahit Mkhoyan (Direktorin der Caritas Georgien): Ich bin recht besorgt. Die Situation ist ziemlich prekär, da es erhebliche Zweifel an der Integrität der Wahlen sowohl bei der Opposition als auch in der Öffentlichkeit gibt. Leider wurden die endgültigen Ergebnisse noch nicht bekannt gegeben, und das Parlament hat sich noch nicht versammelt.
Am Montag gab es schon Demonstrationen auf den Straßen, und wir sind uns nicht sicher, ob sie heute fortgesetzt werden. Es ist verständlicherweise ein angespanntes Umfeld.
DOMRADIO.DE: Glauben Sie, dass die Wahl manipuliert wurde?
Mkhoyan: Es gibt zahlreiche Berichte, die Manipulationen nahelegen, es besteht die Möglichkeit, dass das tatsächlich geschehen ist. Allerdings können wir, bis wir definitive Ergebnisse haben, keine festen Schlussfolgerungen ziehen. Dennoch fällt es uns leicht zu glauben, dass eine Manipulation stattgefunden haben könnte, besonders weil die öffentliche Stimmung gegen die regierende Partei zu sein scheint.
DOMRADIO.DE: Es gibt die Frage der politischen Ausrichtung: Bevorzugen die meisten Menschen in Ihrem Land engere Beziehungen zu Europa oder zu Russland?
Mkhoyan: Wir können hauptsächlich aus der Perspektive von Tiflis sprechen, da dort etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt. In unserer Hauptstadt scheint die regierende Partei an Unterstützung verloren zu haben, da viele Menschen den Wunsch äußern, sich Europa anzunähern. In ländlichen Gebieten, die von Minderheiten wie Aserbaidschanern und Armeniern bewohnt werden, besteht jedoch eine Wahrscheinlichkeit, dass sie die regierende Partei unterstützen, da wir vermuten, dass sie mit Russland verbunden sein möchten.
DOMRADIO.DE: Wie steht die Kirche dazu, da etwa 80 Prozent der Georgier zur orthodoxen Kirche gehören? Hat sie eine Meinung zu diesem Thema?
Mkhoyan: Die Kirche hält sich im Allgemeinen aus politischen Diskussionen heraus; sie äußert keine politischen Meinungen.
DOMRADIO.DE: Erst im Mai hatte das so genannte "Ausländische Agenten Gesetz" für Aufsehen gesorgt. Hier geht es nicht um Agenten, sondern um finanzielle Hilfen aus dem Ausland, die deswegen staatlich kontrolliert werden sollen. Hat das Ihre Arbeit als Caritas bislang beeinflusst?
Mkhoyan: Wir sind noch unsicher. Viele Organisationen, einschließlich unserer, haben sich nicht unter diesem Gesetz registriert. Wir befinden uns in einer Warteschleife und warten darauf, wie sich die Wahlergebnisse entwickeln, bevor wir unsere nächsten Schritte bestimmen. Im Allgemeinen lehnt "Caritas Georgia" dieses Gesetz ab, da es uns verpflichtet, persönliche Informationen offenzulegen, die wir lieber privat halten würden.
Das Etikett "ausländischer Agent" ist irreführend, da es impliziert, dass wir ausländischen Einfluss in unsere Arbeit bringen. Es erschwert unsere Arbeit, da wir Gefahr laufen, als ausländische Organisationen wahrgenommen zu werden. Zudem könnten potenzielle Spender zögern, uns aufgrund dieses Etiketts zu unterstützen. Derzeit stammen etwa 68 Prozent unseres Budgets aus ausländischer Hilfe.
DOMRADIO.DE: Welche Auswirkungen hat das auf Ihre wohltätige Arbeit, wenn die regierende Partei weiterhin an der Macht bleibt?
Mkhoyan: Es ist eine etwas unangenehme Situation. "Caritas Georgia" ist auf staatliche Mittel für verschiedene Projekte angewiesen – zwei unserer Initiativen werden bis zu 60 Prozent aus staatlichen Mitteln finanziert. Es ist widersprüchlich, uns als ausländische Agenten zu kennzeichnen, während wir staatliche Dienstleistungen umsetzen.
DOMRADIO.DE: Welche Auswirkungen hat es auf Sie und Ihre Arbeit mit "Caritas Georgia", wenn die regierende Partei weiterhin das Land regiert?
Mkhoyan: Ich versuche optimistisch zu bleiben, aber es wird zunehmend schwieriger. Viele junge Georgier sind entmutigt, besonders da es Hoffnungen auf unsere Kandidatur für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gab. Diese Regierung hat die Hoffnungen vieler zunichtegemacht und die Menschen fühlen sich verzweifelt und ängstlich. Das übergreifende Gefühl ist, dass wir zurückfallen, anstatt Fortschritte zu machen.
Das Interview führte Johannes Schröer.