DOMRADIO.DE: Am Montag waren es die Proteste der Bauern, die das Land stark beeinträchtigt haben, nun seit Mittwoch der Streik der Bahn. Halten Sie solche starken Einschränkungen für die Menschen in diesem Land durch einzelne Gruppen wie Bahnmitarbeiter oder Bauern für ethisch zu rechtfertigen?
Prof. Dr. Dr. Elmar Nass (Lehrstuhl für christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für katholische Theologie): In unserer freiheitlichen Demokratie ist das Streikrecht ein hohes Gut. Ebenso das Demonstrationsrecht. Werden hier die legalen Verfahren eingehalten, so entsprechen Streik und Demonstration den Regeln unseres Rechtsstaats.
Und dieser ist ein sehr hohes Gut auch mit ethischem Gehalt. Die Einschränkungen sind der Preis, den wir als Bürger für dieses Gut zahlen. Ich sehe allerdings moralisch einen Unterschied beider Aktionen.
Die Bauern gehen erstmals in dieser Weise auf die Barrikaden, weil viele auch um ihre Existenz bangen. Ich halte das grundsätzlich für legitim gerade bei einer solchen Berufsgruppe, die ansonsten schon so lange so viel geschluckt hat. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) nutzt dagegen alle Jahre wieder ihre besonderen Droh- und Machtpotentiale mit massiven Ausständen. Die Forderungen sind vergleichsweise sehr hoch. Der Ton ist extrem scharf.
Andere Arbeitnehmer haben solche Macht nicht. Die GDL überzieht und stört den sozialen Frieden über das gute Maß hinaus. Ihre Führung verhält sich klassenkämpferisch und egoistisch. Das passt nicht in die Soziale Marktwirtschaft.
DOMRADIO.DE: Den Protesten der Bauern wurde nicht nur die Blockade des Landes vorgeworfen, sondern auch dass extreme Kräfte sich die Demonstrationen teilweise zu eigen gemacht haben. Spielen solche Unterwanderungen bei der ethischen Bewertung der Proteste eine Rolle oder reichen in Ihren Augen die Distanzierungen, die es von Seiten der Bauern ja durchaus gegeben hat?
Nass: Bei Demonstrationen besteht immer die Gefahr, dass sich ungebetene Gäste daruntermischen. Das haben wir jetzt bei den Bauern gesehen. Das sehen wir ebenso bei Friedensdemonstrationen oder Maikundgebungen der Gewerkschaften, unter die sich Kommunisten mit ihren Fahnen mischen.
Die Bauernverbände haben sich hier sogar deutlicher davon distanziert als manche, die sich hinter ungebetenen roten Fahnen mit Hammer und Sichel einreihen. Sie haben zum Teil auch solche Unterwanderung aktiv verhindert. Das ist zu begrüßen. So sollte es bei freiheitlichen Demonstrationen auch möglichst immer versucht werden. Das Anliegen der Bauern wird durch solche Versuche ethisch nicht diskreditiert. Erst recht nicht ihr Demonstrationsrecht.
DOMRADIO.DE: Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, aber Protestaktionen wie Blockaden oder auch der Bahnstreik bringen natürlich viel mehr Aufmerksamkeit, weil die Auswirkungen viele Menschen direkt in ihrem Alltag betreffen. Auch die Klebe-Aktionen der Letzten Generation funktionieren in ihrer öffentlichen Wirkung nur über die Blockade. Lassen sich so die Störaktionen begründen, weil man sonst mit seinem Anliegen keine breite Aufmerksamkeit finden würde?
Nass: Jede Demonstration ist auf gewisse Weise eine Blockade. Das muss die Demokratie grundsätzlich aushalten. Aber es gibt moralische Kriterien zur Unterscheidung der Geister. Aufmerksamkeit um jeden Preis ist kein demokratisches Prinzip.
1. Es muss das richtige Maß eingehalten werden und der richtige Ton gefunden werden. Das sehe ich etwa bei der GDL inzwischen nicht mehr.
2. Es darf nicht die Gesundheit oder gar das Leben von Mitmenschen gefährdet werden. Das aber haben die Klimakleber auf sich genommen, wenn Rettungswagen blockiert wurden.
3. Auch halte ich es moralisch für verwerflich, wenn Symbole des Staates verunstaltet werden, wie etwa durch das Beschmieren der Grundgesetzartikel durch die Letzte Generation in Berlin.
4. Hass oder Hetze gegen einzelne Personen sind ebenso inakzeptabel, vor allem wenn es um die Privatsphäre geht. Deshalb war auch etwa die Blockierung der Fähre von Robert Habeck in Nordfriesland eine Grenzüberschreitung.
5. Das Ziel der Demonstration muss der ehrliche Dialog sein, nicht Aufmerksamkeit und nicht Rechthaberei. Wo manche Klimakleber oder andere "die Wissenschaft" quasi für sich gepachtet haben und sich als deren einzige erwählte Wächter sehen, wird es autoritär. Solche Arroganz egal aus welcher Richtung gefährdet unsere Demokratie.
DOMRADIO.DE: Wie kann man nun abwägen zwischen den Interessen von einzelnen Berufsgruppen und der Mehrheit der Menschen in diesem Land, die ja auf direkte Entscheidungen für oder gegen Gruppen wie die Landwirte gar keinen Einfluss haben?
Nass: Wo die Regeln des Rechtsstaates eingehalten sind und die ethischen Prinzipien ehrlich eingehalten werden, da sind solche Einschränkungen der Preis der pluralistischen Demokratie. Auch wenn es uns hie und da persönlich einmal ärgern mag.
Die Fragen stellte Mathias Peter.