Grundsätzlich gilt es noch - das Klischee des katholischen Italiens. Laut einer unlängst veröffentlichten Erhebung im Auftrag der Bischofskonferenz des Landes bezeichnen sich nach wie vor gut 70 Prozent der Menschen im Land als katholisch. Aber es ist eine eine spezielle Art von Katholisch-Sein.
Die repräsentative Befragung von 1.000 Italienern war Teil des synodalen Prozesses der katholischen Kirche des Landes, zu dem der Papst die Kirche weltweit aufgerufen hat. Durchgeführt wurde sie Ende September, ihre Ergebnisse Anfang November präsentiert, nach der abschließenden Bischofssynode zu Synodalität im Vatikan.
Bei der Befragung fand das "Centro Studi Investimenti Sociali" (Censis) eine "weit verbreitete Grauzone" des italienischen Katholizismus: Menschen, die sich zwar als Katholiken bezeichnen, ihre Religiosität aber wenig praktizieren und eine stark individuelle und eher emotionale Beziehung zum Glauben pflegen.
Nun sind Italiens Katholiken ohnehin pragmatischer, flexibler und weniger dogmatisch als ihre Glaubensgeschwister andernorts.
Katholisch zu sein ist in Italien vor allem auch eine kulturelle und emotionale Angelegenheit. Mit fließenden Übergängen ins Abergläubische, weswegen Horoskope und Wahrsager im Alltag eine oft größere Rolle spielen als Bibel und Kirchenlehre.

Des Weiteren sind Kultur und Geschichte des Landes maßgeblich durch die Kirche geprägt. Und ein sehr großer Teil junger Menschen ist neben der Schule durch Kinder- und Jugendarbeit sowie Katechese in Pfarrgemeinden sozialisiert. Nur gut fünf Prozent der Befragten gaben an, in einem "anti-katholischen" Umfeld aufgewachsen zu sein.
Je nach Verständnis dessen, was Katholisch-Sein ausmacht, kommt die Censis-Studie zu unterschiedlichen Ergebnissen. Italiener, die oft zur Kirche gehen, Sakramente empfangen, einigermaßen die Bibel, Rituale und Traditionen kennen, die kirchliche Ereignisse verfolgen und eine Beziehung zur Transzendenz empfinden, bilden demnach eine klare Minderheit. Ist das Kriterium fürs Katholisch-Sein jedoch "der Wunsch, weiterhin einer Gemeinschaft anzugehören, ohne diese ständig zu besuchen, ohne ihre Regeln zu respektieren sowie ein gewisses Misstrauen zu hegen gegenüber kirchlichen Verantwortungsträgern - dann gibt es viele Katholiken".
71,1 Prozent der Bevölkerung nennen sich selbst "katholisch": 15,3 Prozent bezeichnen sich als aktive Katholiken; 34,9 Prozent geben an, gelegentlich an kirchlichen Aktivitäten teilzunehmen; und 20,9 Prozent sehen sich als "nicht praktizierende" Katholiken. Unter den übrigen 28,9 Prozent gehören drei Prozent einer anderen Religion an, 4,7 Prozent nennen sich allgemein gläubig, 18,9 Prozent als nicht-galubend und 2,3 Prozent sind unentschieden.
Geschlechterunterschiede gibt es kaum. In der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen allerdings sinkt der Anteil derjenigen, die sich derart abgestuft als Katholiken bezeichnen, auf 58,3 Prozent. Nur jeder Zehnte unter 35 sieht sich als praktizierender Katholik.
43,6 Prozent der Italiener (46,5 % der Frauen) sagen, die katholische Kirche sei eine Macho-Institution. Unter praktizierenden Katholiken meint dies ein knappes Viertel. Dennoch ist dies nicht der Hauptgrund für eine Distanzierung von der Kirche. Gefragt nach den Hauptgründen, warum sie sich in der Kirche nicht wiederfinden, sagen 45 Prozent, die Kirche sei "zu alt", 28 Prozent erkennen in ihr keine "klare Linie". Nur 9 Prozent jedoch nennen als Grund, dass Frauen in der katholischen Kirche keine Führungspositionen innehaben (von den befragten Frauen sind es 12,4 Prozent).
Vielen Engagierten ist die Kirche zu modern
In den genannten Kritikpunkten - "zu alt", "keine klare Linie", "Frauendiskriminierung" - gibt es kaum Unterschiede zwischen engagierten, gelegentlich und gar nicht praktizierenden Katholiken.
Die größte Diskrepanz in puncto Kirchenkritik findet sich zur Aussage: "weil sie mir zu modern ist". 21,7 Prozent der engagiert-praktizierenden Katholiken stehen hier 2 bis 4 Prozent der übrigen Katholiken gegenüber - und 0,7 Prozent der Nicht-Glaubenden.
Dennoch träumt nur jeder siebte engagierte Katholik von einer Kirche der "Wenigen, aber Guten". Gut 60 Prozent meinen, die Kirche müsse sich den Bedingungen der heutigen Welt anpassen.

Ebenfalls sechs von zehn Befragten sagten, sie würden unter Umständen Rat in Lebenslagen auch bei einem Priester suchen. Gleichwohl wird der Umgang des Klerus mit Laien ein zunehmendes Problem. Stärker als andere Gründe schreckt die Tendenz der Kirche, engagierte Gläubige an den Rand zu drängen: Fast die Hälfte der Italiener ist davon überzeugt - von 38 Prozent bei praktizierenden Gläubigen bis zu 54 Prozent bei nicht Praktizierenden. "Die Kirche, die aus sich herausgehen soll", zitiert Censis das Papst-Wort von der "chiesa in uscita", "wurde von einer Kirche bestimmt, die sich den unternehmungslustigeren Laien verschloss."
Zwei Drittel der Italiener beten oder wenden sich an eine höhere Macht; auch jeder neunte Nicht-Glaubende tut das. Und von diesen glauben gar 17,3 Prozent an ein Leben nach dem Tod. Unter praktizierende Katholiken sind es knapp 88 Prozent. Trotz der von Geistlichen noch oft beworbenen Beichte nimmt das Bewusstsein für Sünde ab. Dies hängt auch damit zusammen, dass die katholische Kultur in den vergangenen 50 Jahren "stark vergebend" war. Allerdings sei dies "nicht immer gleichbedeutend mit einem reinen Gewissen; im Gegenteil, nur wenige können von sich behaupten, frei von Schuld zu sein", so die Autoren.
Viele haben Respekt vor Marienfrömmigkeit
Erschwerend komme hinzu, "dass Schuld schwer loszuwerden ist, Sünden aber "erlassen" werden können. Das heutige Schuldgefühl ist, gerade weil es ein Selbsturteil ist, eine Art Personalisierung der Sünde".
Die Einsicht, "Ich habe geirrt, weil ich nicht dem Bild entsprochen habe, das ich von mir selbst hatte", sei "eine Niederlage des Ichs".
Dieser Druck sei schlimmer als traditionell verstandene Sünde. "Denn als das Gericht noch in Gottes Händen lag, schloss Irrtum auch Vergebung ein."
Katholizismus als prägender Faktor italienischer Kultur zeigt sich etwa in der Haltung zum Symbol des Kreuzes oder zur Marienfrömmigkeit. Nur gut zehn Prozent sagen, das Kreuz sei ihnen gleichgültig, gut ein Drittel respektiert es, und für fast 55 Prozent der Befragten ist es Teil ihres religiösen Empfindens. Für 41 Prozent gehört zu ihrer Katholizität die Verehrung der Madonna, der Gottesmutter Maria. Sogar fast 37 Prozent der Nicht-Glaubenden haben immerhin eine gewissen Form von Respekt davor.

Die große Grauzone im Katholizismus des Landes sei vorrangig das Ergebnis des vorherrschenden Individualismus, so die Autoren. Ein weiterer Grund sei vergebliches Mühen der Kirche, den Menschen eine Transzendenz, ein "Darüber-hinaus" aufzuzeigen. Für den weiteren synodalen Weg der Kirche geben die Autoren den Bischöfen daher eine Empfehlung an die Hand:
"Die Kirche hat der italienischen Gesellschaft stets geholfen, über sich hinauszuwachsen; sie muss diese Fähigkeit wiederentdecken", so Censis-Präsident Giuseppe De Rita. "Eine bloß horizontale Kirche verfängt nicht bei denen, die des Individualismus" überdrüssig sind." Es genüge nicht, das "Ich durch ein Wir zu ersetzen". "Sie brauchen ein "Jenseits", ein "Darüber-hinaus"; sie müssen über das Ich hinausgelangen können", so De Rita weiter. Es sei kein Zufall und sollte Christen beunruhigen, dass derzeit in der Welt "Extremisten" auf dem Vormarsch seien - in dem Sinne, dass Menschen nach Wegen suchen, aus dem Gewöhnlichen, der Vereinzelung, dem bloßen Diesseits auszubrechen und einen Sinn zu finden.
Einen solchen Mehrwert zu vermitteln, gilt als ein Ziel des synodalen Weges der katholischen Kirche in Italien. Ob und inwieweit dies der Kirche gelingt, muss sich zeigen. Noch sind sechs von zehn Italienern der Auffassung, die Kirche sei keine bloße Institution der Vergangenheit - sondern habe durchaus Zukunft.