Christen glauben bis heute dem, der kurz darauf ans Kreuz geschlagen wird. Im Johannesevangelium erklärt Jesus: "Ich bin dazu geboren worden und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme."
Die biblische Szene von der Verurteilung Jesu zeigt jenseits von persönlichem Glauben, dass "Wahrheit" schon immer auch ein Politikum war. Vor der Bundestagswahl drängt sich die Frage auf, wie es im "postfaktischen Zeitalter" um die Wahrheit bestellt ist.
Mangelnde Glaubwürdigkeit der politischen Parteien
Es scheint paradox: Menschen beklagen mangelnde Glaubwürdigkeit der politischen Parteien - wählen aber mit Donald Trump jemanden zum US-Präsidenten, der mit der Wahrheit oft auf Kriegsfuß steht. Die "Zeit" verglich seinen Wahlkampfstil mit inszenierten Show-Kämpfen des Wrestling. Dass Trump ein Anhänger dieser - in Deutschland eher als vulgär geltenden - Sportart ist, zeigt einmal mehr ein Video, das kürzlich für Empörung sorgte: Darin ist Trump im Faustkampf gegen einen Mann zu sehen, über dessen Gesicht das Logo des Senders CNN eingeblendet ist.
Das Misstrauen, das Trump gegenüber Medien, aber auch etwa der Wissenschaft schürt, lässt sich in Deutschland ebenfalls beobachten.
In der ARD-Dokumentation "Nervöse Republik" war im Frühjahr zu sehen, wie Reporter Ulrich Wolf bei einer Pegida-Demonstration das Gespräch suchte. Fragte er die Demonstranten, woher sie denn wüssten, dass die Medien angeblich gesteuert würden, erhielt er Antworten wie "ist so" oder "da sind schon Leute irgendwo oben".
"Man verheimlicht uns alles. Man sagt uns gar nichts": Diese Chansonzeile zitiert Jerome Leroy in seinem dystopischen Thriller "Der Block". Darin ist eine rechtspopulistische Bewegung kurz davor, in Frankreich die Macht zu übernehmen. Leroy analysiert: "Genau dieses primitive Ressentiment treibt, unausgesprochen, den Durchschnittsfaschisten an." Ende Juli erscheint mit "Endland" von Martin Schäuble ein Roman, der ein ähnliches Szenario für Deutschland entwirft.
"Social Propaganda"
Moderne Propagandisten machen sich die diffusen Sorgen zunutze. Der Autor Sascha Lobo prägte dafür den Begriff "Social Propaganda".
Demnach geht es bei Propaganda im Zeitalter der Sozialen Medien nicht mehr darum zu überzeugen, schrieb er bei Spiegel Online. Vielmehr gelte es, einfache Erklärungen anzubieten, "die auf den ersten, sozialmedialen Blick irgendwie stimmen könnten". Im Umkehrschluss wollten Propagandisten die Menschen an allem zweifeln lassen: Sie sollten "aus einzelnen, nachweislich vorhandenen Lügen und Fehlern" etwa in den Medien den Schluss ziehen, "dass alles gelogen und falsch sei".
Neben diesem Effekt sprechen Sprachwissenschaftler von "Framing", wenn durch stete Wiederholung ein bestimmtes Verständnis eines Sachverhalts durchgesetzt werden soll. Ein Beispiel ist der Begriff "Fake News", den Trump erfolgreich etabliert hat. Wenn Medien nun beteuern, keine "Fake News" zu verbreiten, spielen sie dem Republikaner damit in die Hände, mahnen die Experten: weil sie Trumps Deutungsmuster aufgreifen und in den Köpfen der Menschen verstärken.
Emotionen statt Wahrheit
"Wahrheit" wird so zum Kampfbegriff: Das allerdings nicht erst seit Trump, betonte der kanadische Wissenschaftler Jason Hannan vor kurzem in Bonn. Er sieht die Wahrheit in Gefahr, seitdem "mehr Wert auf Haarschnitte" gelegt würde als auf Inhalte. Dafür sei unter anderem der Aufstieg des Fernsehens verantwortlich. Die Sozialen Medien hätten diesen Trend noch verschärft. Heute gehe es nicht mehr um die Suche nach der Wahrheit, sondern um Emotionen.
Wie wird sich das alles auf den Bundestagswahlkampf auswirken? Schwer zu sagen. Aber die Angst, dass "Fake News" die politische Auseinandersetzung zumindest teilweise dominieren könnten, ist da.
Spitzenpolitiker warnten bereits zu Jahresbeginn davor; Bundeswahlleiter Dieter Sarreither schloss sich dem an. Der amerikanische Wahlkampf habe sich durch eine wiederkehrende Verbreitung von Unwahrheiten hervorgetan. Trump lässt grüßen - wieder einmal.