Synagogen-Vorstand vermisst Solidarität der Kölner Kultur

"Hätte mir das nie vorstellen können"

Neun Wochen nach dem Hamas-Attentat bleibt die Verunsicherung unter Kölner Jüdinnen und Juden groß. Michael Rado von der Synagogen-Gemeinde beklagt Gleichgültigkeit und setzt zarte Hoffnung aufs neue Gesprächsformat "Forum 321”.

Michael Rado, Vorsitzender Kölner Synagogen-Gemeinde / © Clemens Sarholz (DR)
Michael Rado, Vorsitzender Kölner Synagogen-Gemeinde / © Clemens Sarholz ( DR )

DOMRADIO.DE: Sie sitzen im Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln. Wie geht es den Gemeindemitgliedern über zwei Monate nach dem Angriff der Hamas?  

Dr. Michael Rado (Vorstand Synagogen-Gemeinde Köln): Es geht ihnen schlecht. Es geht ihnen deswegen schlecht, weil sie sich plötzlich nicht mehr akzeptiert fühlen. Weil sie das Gefühl haben, dass aus diesem großen antisemitischen Grundrauschen, also diesem dauernden Antisemitismus, der unterschwellig immer da ist, eine richtige Spitze geworden ist.

Vor kurzem hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Zahlen bekannt gegeben. Seit dem 7. Oktober gab es 3.000 antisemitische Anschläge oder Manifeste in Deutschland. Das also in nur anderthalb Monaten. Im Jahr davor waren es im gesamten Jahr 2.000 Fälle. Da sehen Sie, dass es plötzlich eine Dimension und eine Präsenz hat, die einem richtig weh tun.

Unsere Gemeindemitglieder haben zum Teil sogar Angst, in die Synagoge zu kommen. Sie schicken die Kinder nicht in die jüdische Schule oder den jüdischen Kindergarten, weil sie das Gefühl haben, es sei nicht sicher genug. Selbst mit diesem immensen Polizeischutz, den wir haben und für den man ja nur dankbar sein kann, weil man sich damit wenigstens in der Synagoge wohlfühlen kann.

Wir geben unseren Kindern auch entsprechende Sicherheitsdirektiven, wie sie sich verhalten und wo sie sich aufhalten sollen. Die Situation ist sehr schlimm, sehr unangenehm.

Wenn Sie die Synagoge besuchen würden und die Gottesdienste vorher mit denen jetzt vergleichen würden, würden Sie sehen, dass viele aus Angst wegbleiben. 

DOMRADIO.DE: Hätten Sie sich das vor dem 7. Oktober vorstellen können? 

Rado: Never ever! Ich lebe seit 1952 in Köln und habe eigentlich das Gefühl gewonnen, dass man in Köln, in unserer freiheitlichen Stadt ganz nach dem Motto "Jeck loss jeck elans” ("Jeck, lass den anderen Jeck vorbei”, im Sinne von: "Leben und leben lassen”, Anm. d. Red.) gut leben kann.

Und jetzt das! Auch in Köln haben wir haben deutlich mehr antisemitische Vorfälle, als wir vorher hatten. Gott sei Dank war keiner gefährlich, wir hatten bisher keinen Bombenwurf, kein Feuer, keine Attacken auf Menschen. Aber das Missbehagen, diese Unsicherheit, die da entstehen, sind einfach nur schlimm.

Wir haben Damen in der Gemeinde, die normalerweise einen großen Davidstern als Schmuck tragen. Jetzt haben sie gesagt: "Der muss unter der Bluse verschwinden!” oder "Ich tausche ihn gegen einen kleinen, denn ich will nicht angegriffen werden”. 

DOMRADIO.DE: Wie sehr fühlen Sie sich im Stich gelassen? 

Rado: Zu sehr! Ich muss nicht von allen geliebt werden. Das wäre schön, ist aber nun mal nicht so. Das ist auch okay. Aber dieser Hass jetzt, dieser Abstand ist ganz schlimm.

Ich höre von Freundesgruppen, die auseinanderbrechen, von Fällen, in denen unsere Gemeindemitglieder eigentlich eng mit Nicht-Gemeindemitgliedern befreundet waren und die Freundschaft nun auseinanderbricht. Das hätte ich mir nie so vorstellen können. 

Michael Rado

"All dem gegenüber erlebe ich eine Gleichgültigkeit und finde sie unerträglich."

DOMRADIO.DE: Sie haben vor allem auch aus den Reihen der Kulturschaffenden Solidarität vermisst, oder?

Rado: Absolut. Dafür, dass wir so ein lebendiges Kulturleben haben, ist ja praktisch nichts gekommen. Es hat keine Spontandemonstration gegeben. Nach dem Angriff in Paris auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo wollten alle Charlie Hebdo sein, fast jeder hatte dieses T-Shirt mit der Aufschrift "Je suis Charlie”. Aber wer trägt denn heute hier und jetzt ein T-Shirt, auf dem steht "Ich bin Anti-Hamas”?

Wir haben das verpasst. Wobei ich betonen möchte, dass es nicht um die Palästinenser an sich geht, es geht auch nicht um Israel. Es geht um die Hamas, es geht um Verbrecher, es geht um Täter der übelsten Sorte. Da muss man sich doch abwenden!

Es mir unvorstellbar, dass man dem mit irgendeiner Relativierung begegnen und zum Beispiel sagen kann: "Das muss man auch verstehen, dass die gegen Israel sind”. Du kannst ja gegen Israel sein, du musst nicht für seine Regierung sein, du kannst für eine andere Regierung sein. Du kannst sein, wofür du willst, solange es demokratisch ist.

Aber wir hatten es am 7. Oktober mit einer Abschlachterei zu tun, mit  Vergewaltigungen, mit Verstümmelungen von Frauen. Sonst gehen Frauenrechtler sofort auf die Straße. Diese grauenhaften Verbrechen an Frauen aber haben sie nicht interessiert. Dabei konnte man die Verbrechen sogar sehen. Die Hamas-Milizen haben ihr Massaker doch selbst aufgenommen und in den sozialen Medien geteilt. Zum Teil haben sie ihre Verbrechen mit den Handys der Opfer dokumentiert, sodass die Familie im Nachhinein gesehen hat, was ihren Angehörigen passiert ist.

All dem gegenüber erlebe ich eine Gleichgültigkeit und finde sie unerträglich. 

DOMRADIO.DE: Fühlen Sie sich von den Kirchen auch im Stich gelassen? 

Rado: Die Kirchen haben sich mit uns solidarisiert, wo immer ich hingucke, sei es auf die Spitzen oder an die Basis.

Als aktuelles Beispiel fällt mir der Gemeindebrief der evangelischen Kirche in Braunsfeld ein, wo es darum ging, wie die Kirche sich zu den Juden positioniert. Da habe ich auch die Erklärung des Präses im Rheinland gelesen, in der Thorsten Latzel darlegt, wie sich die Kirche zu den Juden stellt und wie sie sich ganz konkret nach dem Angriff der Hamas zu den Juden stellt.

Das ist ja genau das, was so viele Menschen nicht verstehen, dass es nicht um Israel geht, sondern um die Hamas.

Michael Rado

"Ich weiß natürlich, dass Juden, Christen und Muslime als Menschen alle dasselbe Blut haben."

DOMRADIO.DE: Das neue Gesprächsformat "Forum 321” soll die Bemühungen des Jubiläumsjahres fortsetzen und jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer machen. Sie wünschen sich, viel mehr auch die schönen und heiteren Seiten jüdischer Kultur zu vermitteln. 

Rado: Ich finde es sehr notwendig, dass wir die Schönheit und Fröhlichkeit des jüdischen Lebens weitergeben, all das, was wir so feiern und machen. In den vergangenen 20, 30 Jahren hatten wir oft einen reinen Antisemitismus-Unterricht. Wenn ich Leute um die 50 frage, was sie da gelernt haben, antworten sie: "Da wird gelehrt, dass es keinen Antisemitismus geben darf.”

Aber die Jüngeren sind ja heute vor allem in den sozialen Medien unterwegs. Ich glaube, wir brauchen vor allem einen Zugang über Musik. Als ich Teenager war, hatte Musik höchsten Stellenwert für mich, das geht wahrscheinlich den meisten so. Wir bieten viel zu wenig schöne Musik an, die von den jungen Leuten akzeptiert wird. Musik, bei der sie erkennen, dass sie in irgendeiner Form Jüdisches repräsentiert. Ob es nun etwas Israelisches, Jüdisches oder Ladino ist, ist völlig egal. Die Musik muss die Leute ansprechen und sie sollen verstehen, dass Menschen diese Musik gemacht haben.

Ich bin Arzt und weiß natürlich, dass Juden, Christen und Muslime als Menschen alle dasselbe Blut haben. Das muss den Leuten doch klar sein, dass wir alle dasselbe Blut haben und alle erst einmal gleich sind. Gott hat uns so geschaffen.

DOMRADIO.DE: Sie beklagen, dass wir in Deutschland in Sachen Antisemitismus-Erziehung versagt haben. Was müsste da anders laufen? 

Rado: Die Kulturleute müssten sofort aufstehen, wenn so etwas wie der Hamas-Angriff passiert. Das war für mich sozusagen der Lackmustest. Daran, wie es jetzt gelaufen ist, habe ich gesehen, dass da nichts angekommen ist. Diejenigen, die nach zwei Monaten endlich etwas gemacht haben, waren die Leute von "Arsch huh”, sie haben ihren Hintern hoch bewegt.

Beim "Zäng ussenander”, als es darum ging, die Zähne auseinander zu kriegen und den Mund aufzumachen, da haben sie aber relativiert und Sachen gesagt wie: "Kein Kind darf umkommen. Israel darf dies nicht und das nicht”. Tatsächlich schießt die Hamas die ganze Zeit schon Raketen auf die Zivilbevölkerung Israels, auf Kinder und Zivilisten.

Daran hat man sich hier gewöhnt. Und die Israelis haben sich auch schon fast daran gewöhnt, in Bunker zu laufen. Man hat sich hier daran gewöhnt, dass der Kampf gegen Zivilisten im Programm der Hamas steht, dass es ihr Programm ist, alle Juden in Israel umzubringen. Hinterher kommen die Leute und sagen: "Das haben wir nicht gewusst, das haben wir nicht gelesen!”

Das haben sie damals zu Hitlers "Mein Kampf” auch gesagt. Diejenigen, die das Manifest der Hamas gelesen haben, sagen dagegen: "Wir haben nicht geglaubt, dass sie das wirklich durchsetzen”. Auch das haben sie damals zu "Mein Kampf” gesagt: "Wer hätte denn gedacht, dass er das ernst meint?” Dabei stand da schon alles drin.

DOMRADIO.DE: Wie optimistisch sind Sie, dass das "Forum 321” solchen Entwicklungen etwas entgegensetzen kann?

Rado: Ich glaube, dass die Macher die notwendige Sensibilität haben und ich hoffe sehr, dass sie den richtigen Weg finden. Ich kann Ihnen den Weg nicht sagen. Ich hatte immer gute Ratschläge, aber jetzt denke ich, dass wir mit dem, was wir in den letzten 50 Jahren gemacht haben, versagt haben. Das ist doch nichts geworden. Also muss etwas Besseres her. Was besser ist, weiß es nicht. Sonst hätten wir es ja schon. 

Das Interview führte Hilde Regeniter. 

Quelle:
DR