Es sind jetzt schon 38 Tage. Das weiß Roshin al Husin ohne eine Sekunde zu überlegen. Der vergangene Montag ist der 38. Tag, an dem türkische Kampfflugzeuge über ihren Heimatort in der syrischen Region Scheikh al-Hadid fliegen, der wenige Kilometer von der türkischen Grenze und 30 Kilometer westlich von Afrin liegt.
Und seitdem sitzen ihre Großmutter, die Familie ihres Onkels und der Großteil der Familie ihres Mannes Bengin al Ahmad fast ununterbrochen in den Kellern ihrer Häuser und hoffen, so zu überleben.
Im Minutentakt Blick aufs Smartphone
"Natürlich haben wir große Angst um sie", sagt die 21-jährige Kurdin, die seit etwas mehr als zwei Jahren in Kirchheim am Neckar (Baden-Württemberg) lebt. Vor allem in den ersten Tagen nachdem die türkische Armee ihre Militäroffensive begann, bangten sie um ihre Verwandten. Einige Tage lang hörten sie nichts von ihrer Familie, weil alle Telekommunikation unterbrochen war.
Während zu Hause die Bomben fallen, ist für die junge syrische Familie in Deutschland der Alltag eingekehrt: Die beiden Söhne Ashraf, vier Jahre, und Dilcan, drei Jahre, besuchen den Kindergarten, die Eltern vormittags einen Deutschkurs. Doch die Konzentration dort fällt Roshin al-Husin zur Zeit sehr schwer, gibt sie zu.
Beinahe im Minutentakt blickt sie auf ihr Smartphone, es könnten ja schlechte Nachrichten aus Afrin kommen. So wie Ende Januar: Da schickte eine Freundin ihr einen Link zu einer Facebook-Seite. Ein Mann aus Istanbul, der auf seinem Profilbild mit zwei Schwertern, einer ledernen Rüstung und zwei türkischen Flaggen im Hintergrund posiert, hatte auf seiner Seite am 29. Januar ein Video "von der Front" gepostet.
Der Onkel wurde in Militäroffensive getötet
Darin wird ausgiebig der Leichnam ihres Onkels gezeigt, der auf dem Boden in einem Wald liegt. Unter dem Video finden sich 51 Smileys und 30 "Gefällt mir", sowie Beleidigungen wie "Kanalratte" und "Kadaver". Auf diese Art erfährt sie vom Tod ihres 34-jährigen Onkels Luqman Ali al-Husin.
Er hatte sich der kurdischen Miliz angeschlossen, als die Türkei am 20. Januar ihre Militäroffensive gegen Afrin begann, um seine Heimat zu verteidigen. Wie sich später herausstellte, wurde er von einem Kampfflugzeug getötet. Ihr Onkel hinterlässt eine Frau und drei kleine Kinder.
"Luqman war einer meiner besten Freunde", so Bengin al-Ahmad. "Er hat mich mit Roshin verkuppelt", sagt er und schaut seine Frau an. Diese hält ein Papier in der Hand, auf der ihr Onkel zu sehen ist. Sie streicht über sein Gesicht, und über das Gesicht seiner Kinder. "In Afrin wird es immer schlimmer. Die Menschen werden wie Blumen zertrampelt."
"Wo sind die Menschenrechte?"
Roshin al-Husins 80-jährige Großmutter und die Familie des verstorbenen Onkels sind am 26. Februar nach Afrin geflohen, weil dort weniger Angriffe geflogen werden. Zudem habe bereits die von der Türkei unterstützte Freie Syrische Armee (TFSA) die Kontrolle über Scheikh al-Hadid. "Die Menschen fürchten, nun getötet zu werden."
Bengin al-Ahmads Familie konnte noch nicht fliehen. Er hat drei gehbehinderte Brüder und der Kleinbus, der die Familie nach Afrin fahren will, muss warten, bis die Kampfflugzeuge eine Pause einlegen, bevor sie sich auf den Weg in die Stadt machen.
Bengins jüngerer Bruder Shakir, der bei der Familie in Kirchheim wohnt, zeigt auf seinem Handy das Bild eines blutüberströmten Babys. "Sehen so Terroristen aus?", fragt er bitter. "Wo sind die Menschenrechte?" Das Gebiet Afrin wird von den YPG-Einheiten kontrolliert, die die Türkei für den syrischen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit für Terroristen hält und bekämpft.
Muslime kämpfen gegen Muslime
Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International sind im syrischen Afrin 93 Zivilisten in der Zeit vom 21. Januar bis 22 Februar durch türkische Artillerie umgekommen, darunter 24 Kinder. Weitere 313 wurden verletzt. Amnesty beruft sich dabei auf Angaben des Kurdischen Roten Halbmondes.
Besonders schwer zu verkraften, erzählt Roshin al-Husin, sei für sie, dass in der Auseinandersetzung Muslime gegen Muslime kämpfen. "Wir Kurden sind doch auch Muslime, aber in ihren Augen haben wir keine Religion."
Auf ihrer Facebook-Seite feiert al-Husin ihren verstorbenen Onkel als Held, ja Märtyrer. Über ein Foto hat sie auf Arabisch geschrieben: "Märtyrer Luqman, wir werden zu deinen Kindern sagen: Geht, erschafft Kurdistan und kehrt mit der Unabhängigkeit zurück."
Von Außenpolitik enttäuscht
Al-Husin und ihr Mann fühlen sich wohl in Deutschland und schätzen es, dass es hier Freiheit und Demokratie gibt, und selbst Türken, Araber und Kurden friedlich zusammenleben können. Doch von der Außenpolitik sind sie enttäuscht. "Warum macht Deutschland nichts? Merkel schaut nur zu, während Erdogan deutsche Panzer im Kampf gegen unsere Familien einsetzt."
Dann am Mittwoch kommt die gute Nachricht: Die al-Ahmads sind nun auch wohlbehalten in Afrin angekommen. Doch eine Unterkunft haben sie dort nicht. Vorerst müssen sie wie so viele andere geflüchtete Menschen auf der Straße leben.
Judith Kubitscheck