"Wir haben es mit einem sehr hohen Gewaltniveau zu tun", sagte der Ko-Direktor der unabhängigen Recherche-Organisation "Afghanistan Analysts Network" dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das zeige nicht nur der schwere Anschlag am Mittwoch in Kabul. Bereits in den vergangenen Monaten sei die Situation weiter eskaliert, da die Taliban ihre sogenannte Frühjahrsoffensive begonnen hätten: "Sie haben oftmals in mehreren Provinzen gleichzeitig angegriffen."
Am Mittwoch wurden bei einem schwereren Terroranschlag in der afghanischen Hauptstadt Kabul mindestens 80 Menschen getötet und 350 verletzt. Der Sprengsatz zündete am Morgen im hochgesicherten Diplomatenviertel. Auch die deutsche und französische Botschaft wurden beschädigt und Mitarbeiter getroffen. Wer die Täter waren, blieb zunächst unklar.
Taliban kontrolliert fast die Hälfte des Landes
Die Taliban sind dem Experten zufolge immer noch die wichtigste Rebellengruppe. Erst danach folge der "Islamische Staat" (IS), der im Gegensatz zu den Taliban kaum eine territoriale Basis habe. "Die Taliban kontrollieren mittlerweile über 40 Prozent des Landes", sagte Ruttig. Besonders nachdem bis Ende 2014 die meisten westlichen Kampftruppen aus dem Land abgezogen waren, hätten sich die Taliban weiter ausgebreitet.
Es sei eine Fehleinschätzung gewesen, zu glauben, die afghanischen Sicherheitskräfte seien in der Lage, die Taliban allein im Zaum zu halten: "Das ist - wie der Anschlag wieder einmal gezeigt hat - nicht der Fall."
Politische Lösung fehlt noch
Ruttig forderte stärkere Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts. "Es ist eine politische Lösung nötig, in die auch die Taliban miteinbezogen werden", sagte der 59-Jährige. Denn die Rebellengruppe könne man nicht nur als Terrororganisation bezeichnen: "Sie haben eine bestimmte Legitimität und teilweise Unterstützung aus der Bevölkerung." Letztendlich seien die Taliban auch Teil der afghanischen Gesellschaft.
In den vergangenen Jahren habe es in Afghanistan täglich Anschläge oder Kämpfe gegeben, erklärte Ruttig, der sich bereits seit 35 Jahren mit dem Land am Hindukusch beschäftigt. Anschläge wie am Mittwoch seien dazu da, um Macht zu demonstrieren, und die Schwäche der Regierung aufzuzeigen: "Solche Attentate gewinnen den Krieg aber nicht." Sie verunsicherten Bevölkerung und Regierung.