KNA: Frère Alois, was war bislang Ihre größte Überraschung in dieser Woche?
Frère Alois (Taizé-Prior): Die Reife der Jugendlichen. Mehrere tausend sind hier, die sehr motiviert nach Solidarität suchen und sich dafür einsetzen; das kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Viele Jugendliche sind nicht so passiv, wie man manchmal den Eindruck haben könnte. Taizé soll für die Jugendlichen keinen Rückzug auf sich selbst bedeuten. Das Gebet, das die Mitte unseres Lebens hier darstellt, soll ja zu Hause weitergehen und uns helfen, die Augen auf der Suche nach Solidarität zu öffnen.
KNA: Wie kommt das jugendbewegte Taizé mit der "Generation Smartphone" klar? Selbst in der totalen Stille der romanischen Kirche des Ortes surft jeder Dritte in den sogenannten Sozialen Netzwerken.
Frère Alois: Bei den gemeinsamen Gebeten hört man nur ganz selten ein Handy klingeln. Viele sagen uns auch, dass sie hier ganz bewusst ihr Telefon abschalten. Und wir müssen doch dankbar sein, dass viele Jugendliche heute auf diese Weise die Globalisierung leben und miteinander verbunden sind - oft aus Freundschaft und um sich gegenseitig kennenzulernen. Das ist nicht nur negativ.
KNA: Sie haben im Vorfeld den Begriff "Gedenken" soweit wie möglich gemieden und lieber von einer "Solidaritätswoche" gesprochen. Aber wenn am Sonntag rund 100 Vertreter christlicher Konfessionen und anderer Religionen anreisen: Kommen die wirklich vor allem wegen der Solidarität - oder auch wegen Frère Roger?
Frère Alois: Beides. Für Frère Roger gehörte Solidarität ganz wesentlich zu unserer Gemeinschaft. Er sprach in den 70er Jahren von "Kampf und Kontemplation". Wir sind sehr dankbar, dass dieses Thema in vielen christlichen und religiösen Gemeinschaften lebendig ist.
KNA: Apropos Solidarität. Taizé ist zwar nie parteipolitisch oder allzu tagespolitisch gewesen - aber ist doch am Ende stark politisch engagiert. Was kommt Ihnen zu dem Begriffsfeld EU - Flüchtlinge - Finanzkrise - Griechenland als erstes in den Sinn?
Frère Alois: Zuerst die Angst vor dem Unbekannten. Die müssen wir sehr ernst nehmen. Denn die Migration wird unsere Gesellschaften tief verändern. Die Frage ist: Wie gehen wir darauf ein? Nur mit Angst - oder auch mit Offenheit? Ich bin ganz erstaunt, dass - sobald dieses Thema hier angesprochen wird - immer jemand von einer konkreten Initiative berichtet. In einer Kleinstadt in Süddeutschland hat zum Beispiel der Stadtrat die Bürger aufgefordert, jugendliche Migranten für einige Jahre bei sich aufzunehmen - und es haben sich tatsächlich Familien gemeldet. Wir sollten also nicht den Teufel an die Wand malen. Es passiert sehr viel Gutes.
KNA: Haben Sie nachts schon mal die Sorge, als Prior eine falsche Weichenstellung oder Entscheidung zu treffen?
Frère Alois: Diese Sorge ist immer da - aber vor allem für uns als Gemeinschaft: Jeder Bruder soll sich entfalten können. Das hat jedoch auch mit Loslassen-Können zu tun. Denn unser lebenslanges Ja zu Christus beinhaltet ein Nein zu vielem anderem - auch zu sehr positiven Dingen, zu anderen Lebensweisen, anderen Engagements.
Wir müssen bereit sein, Dinge aufzugeben. Das ist für viele junge Leute heute nur schwer zu verstehen. Sie wollen oft alles sofort haben, und auch Christus nachzufolgen, soll vor allem mit einer großen persönlichen Entfaltung einhergehen. Das kann der Fall sein, ja - aber es verlangt auch einen Verzicht auf vieles andere. Diese Frage beschäftigt mich derzeit sehr stark: Wir dürfen den Jugendlichen nicht ein Selbstentfaltungs-Evangelium vorspiegeln, das es so nicht gibt. Liebe und Freude gibt es nicht ohne Verzicht.
KNA: Frère Roger hat sich sehr intensiv mit dem abendländischen Mönchtum auseinandergesetzt - und am Ende die Parole ausgegeben: den Blick immer nach vorne, nie zurück. Nicht erstarren, nichts besitzen, sondern immer neu zuhören und erneuern. Das hatte bislang Erfolg. Aber inzwischen hat Taize längst eine Geschichte, eine Tradition. Viele Ordensgemeinschaften sind irgendwann vom eigenen Erfolg niedergewalzt worden.
Frère Alois: Die Gefahr gibt es sicher. Aber gerade in dieser Woche, wo wir Brüder aus allen Fraternitäten auf der ganzen Welt zusammengekommen sind, spüre ich: Die Tatsache, dass wir täglich in aller Welt mit den Jugendlichen zusammenleben und Antworten auf ihre Fragen suchen, hält uns jung. Wir können uns nicht auf uns selbst zurückziehen und unser Leben nur unter uns leben. Wenn etwa die Brüder aus Bangladesch oder Korea über die Armut und die Aufrüstung in diesen Ländern berichten, dann können wir es uns nicht einfach in Taizé oder anderswo bequem machen.
KNA: Und Sie sind auch nie ein großer Orden geworden.
Frère Alois: Es hilft uns, dass wir nur eine kleine Gemeinschaft von rund 100 Brüdern sind, die an verschiedenen Orten auf der Welt leben. Wir kommen aus 30 verschiedenen Ländern und haben ganz unterschiedliche Mentalitäten. Aber wir kennen einander und leben wie eine große Familie zusammen, die gemeinsam Versöhnung verwirklichen will. Wir sehen uns nicht als Institution. Misserfolge erden uns, genauso die Erfahrung, dass nicht immer alles möglich ist. Selbst wenn wir dreimal am Tag gemeinsam beten, bedeutet das nicht automatisch Gemeinschaft und Versöhnung. Es ist mit einer Anstrengung verbunden. Und wenn ein Bruder die Gemeinschaft verlässt, dann ist das so, als müssten wir von Neuem anfangen.
Dem Bruder ein Bruder sein, nur das überzeugt die Jugendlichen, die hierherkommen. Worte allein bleiben nur Worte. Nur unser Lebenszeugnis, unsere Suche nach Versöhnung, die auch mit Misserfolgen zurechtkommen muss, hält uns jung - und kann den Jugendlichen das Evangelium näherbringen.
Alexander Brüggemann