Die schnelle Einnahme Kabuls durch die Taliban am 15. August 2021 und der ebenso chaotische wie demütigende Abzug der ISAF-Truppen in den Tagen danach war für den Westen zwar ein Schock.
Gleichwohl herrschte damals ein gewisser Optimismus, dass die Gotteskrieger keine Neuauflage ihrer früheren Terrorherrschaft in Afghanistan anstreben würden. Anders als in den 1990er Jahren seien die Taliban nun gemäßigter, scheuten aus wirtschaftlichen Gründen die erneute internationale Isolation und hätten es nach 20 Jahren westlichem "Nation Building" mit einer selbstbewussten Zivilgesellschaft zu tun. So die Hoffnung.
Es gilt wieder die Burkapflicht
Zwei Jahre später ist davon nichts mehr übrig. "Die Menschen in Afghanistan erleben unter der Herrschaft der Taliban einen humanitären und menschenrechtlichen Albtraum", brachte es die Organisation Human Rights Watch unlängst auf den Punkt.
Am härtesten traf es Frauen und Mädchen, die Schritt für Schritt unter die Knute der radikalislamischen Geschlechter-Apartheid zurückgezwungen wurden: Heute gilt wieder die Burkapflicht, Frauen dürfen ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen, Mädchen nur bis zur sechsten Klasse die Schule besuchen und ohnehin nicht mehr studieren.
Für besondere Empörung sorgte Ende 2022 ein Gesetz, das Frauen die Arbeit in Nichtregierungsorganisationen, später auch bei den Vereinten Nationen untersagte. "Das hat enorm negative Auswirkungen auf Hilfsprojekte", sagt Stefan Recker, Landesrepräsentant der Hilfsorganisation Caritas international in Afghanistan, der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Denn viele Projekte in Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Nahrungsmittelversorgung und Nothilfe richteten sich speziell an Frauen - die aber gemäß den strengen Scharia-Regeln nur von weiblichen Hilfskräften kontaktiert werden dürfen.
Paradoxerweise sind es nicht selten Frauen, die maßgeblich zum Lebensunterhalt beitragen. Der jüngste Schlag der Taliban richtet sich gegen ihre Arbeit in Schönheitssalons, die geschlossen werden sollen. "Damit verlieren weitere 60.000 Frauen ihre Einkünfte", berichtet Recker.
Nach seinen Schilderungen trägt die Willkür der religiösen Fanatiker oft groteske Züge: "Aus Imagegründen beschäftigen die Taliban bei der Sicherheits- und Passkontrolle am Flughafen Kabul auch Frauen.
Patrouillen in der Stadt
In der Stadt sieht man dann Patrouillen, die Frauen wegen Kleinigkeiten verwarnen, schlagen oder verhaften." Männern werde bei Behördengängen gesagt, sie sollten in drei Wochen wiederkommen, weil ihr Bart zu kurz sei. Andere wiederum würden trotzdem bedient, weil sie wie die Taliban der Ethnie der Paschtunen angehören.
Amnesty International zufolge schweben Menschenrechtsverteidiger, Aktivistinnen und Minderheiten oft in Lebensgefahr. "Willkürliche Verhaftungen, Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen sind seit zwei Jahren vielerorts an der Tagesordnung", erklärte die Organisation zum Jahrestag der Machtübernahme. "Reporter ohne Grenzen" beklagt überdies die massive Zensur der Presse. Viele Journalisten hätten ihre Posten verloren oder seien geflohen. "Mehr als 80 Prozent der afghanischen Journalistinnen mussten seit Mitte August 2021 ihre Arbeit aufgeben."
Und über allem schwebt die katastrophale Versorgungslage eines Landes, das seit fast einem halben Jahrhundert nur Kriege und Krisen kennt. Laut den Vereinten Nationen sind vier Millionen Menschen akut unterernährt, darunter 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren.
Humanitäre Hilfe brauchen sogar 28 Millionen Menschen, rund zwei Drittel der Bevölkerung - während die Hilfsorganisationen zunehmend von den Taliban gegängelt und infiltriert werden, um etwa die Verwendung von Geldern zu beeinflussen. Ein Dilemma für die Helfer, meint Recker: Einerseits ist die Bevölkerung auf deren Einsatz angewiesen, andererseits dürfen sie nicht zu Erfüllungsgehilfen des Regimes werden.
Fest steht offenbar: Die Taliban sitzen fest im Sattel - und der gescheiterte jahrzehntelange ISAF-Einsatz unter Beteiligung der Bundeswehr wirkt somit zweckloser denn je. Zwar hat bisher kein Land das "Islamische Emirat Afghanistan" anerkannt, dessen Emir Hibatullah Achundsada kaum jemand zu Gesicht bekommt.
Auch gibt es Berichte über Uneinigkeit zwischen gemäßigteren und extremistischeren Taliban. Doch es fehle jede Alternative zu ihrer Herrschaft, urteilt der Caritas-Leiter. "Das westliche Modell ist verbrannt und die Taliban garantieren aus Sicht der Mehrheit zumindest Sicherheit. Wenn auch ohne jede Freiheit."