KNA: Amokläufe gab es in Deutschland schon vor und auch nach der Tat eines Ex-Schülers, der am 26. April 2002 im Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst tötete. Welche besondere Bedeutung hat diese Tat unter all den anderen?
Prof. Benedikt Kranemann (Theologe und Liturgiewissenschaftler an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt): Besonders schockiert hat der Ort, eine Schule, also ein eigentlich geschützter Raum, wo man so etwas in Deutschland bis dahin nicht erwartet hatte. Schockierend war auch, dass der Täter aus der Gruppe der Schüler kam, und die Zahl der Opfer. So etwas kannte man bis dahin nur aus den USA, wo es schon häufiger passiert war. Und es geschah in Erfurt, einer ruhigen und aufblühenden Stadt. Das hat die Vorstellung eines gesicherten Lebens und menschlichen Miteinanders sehr stark erschüttert.
KNA: Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Kranemann: Ich habe die Tat zunächst gar nicht wahrgenommen. Aber an dem Tag sind mir irgendwann die vielen Martinshörner, die von der Straße zu hören waren, aufgefallen. Vor meinem Fenster fuhr dann ein gepanzertes Polizeifahrzeug vorbei. Da schwante mir, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
KNA: Das wahre Ausmaß der Tat wurde erst allmählich klar, wie haben Sie das aufgenommen?
Kranemann: Als ich im Laufe des Tages durch die Nachrichten erfuhr, was geschehen war, hat es mich tief erschüttert, zumal der Tatort nur zehn Minuten fußläufig von der Katholisch-Theologischen Fakultät entfernt war. In starker Erinnerung sind mir auch die geschockten Schülerinnen und Schüler, die bald nach dem Amoklauf den Mariendom und die Stufen des Dombergs zu ihrem Ort der Trauer machten.
KNA: Inwieweit ist die Tat in der Stadt noch ein Thema? Der damalige Oberbürgermeister Manfred Ruge bezeichnete sie seinerzeit als das schlimmste Kapitel in der Nachkriegsgeschichte Erfurts ...
Kranemann: Die Tat ist immer noch präsent. Es gibt jedes Jahr weiterhin einen Trauerakt an der Schule und eine Gedenkandacht in der Andreaskirche. Viele Menschen haben durch den Amoklauf Angehörige, Freunde oder Bekannte verloren. In deren Leben, aber auch im Leben der Stadt insgesamt hat die Tat eine Spur hinterlassen.
KNA: Ist es gelungen, die Tat angemessen zu verarbeiten, soweit dies überhaupt möglich ist? Der frühere Ministerpräsident Bernhard Vogel sagte damals, Erfurt dürfe nicht zum Synonym für eine schreckliche Bluttat werden, vielmehr müsse aus ihr ein dauerhafter Impuls für einen menschlicheren Umgang miteinander werden ...
Kranemann: Erfurt steht nicht nur für diesen Amoklauf. Aber wenn solche Taten passieren wie später etwa in Winnenden, dann kommt die Sprache immer auch auf Erfurt. Und die Opfer, auch wenn man sie vielleicht nicht namentlich kennt, bleiben dadurch in Erinnerung.
KNA: Eine Gedenkveranstaltung auf dem Erfurter Domplatz eine Woche nach der Tat wurde bundesweit beachtet. Inwieweit hat sie die Gestaltung von öffentlichen Trauerfeiern nach späteren großen Katastrophen beeinflusst
Kranemann: Sie hat folgende Trauerfeiern sehr geprägt, etwa diejenigen nach dem Amoklauf von Winnenden im Jahr 2009 oder nach dem Absturz des Germanwings-Flugzeugs im Jahr 2015. Ich meine die Art und Weise, wie in Erfurt eine Gesellschaft mit ganz unterschiedlichen Bekenntnissen und Weltanschauungen zusammengeführt wurde und wie man Hoffnung vermitteln wollte.
KNA: Was prägt solche Gedenkveranstaltungen seither?
Kranemann: Die großen gesellschaftlichen Trauerfeiern der letzten Jahre sind sichtlich durch das Bemühen gekennzeichnet, zum Beispiel verschiedene Religionen mit ihren Gebeten zu beteiligen. Das ist eine bleibende Aufgabe. Wie auch eine andere Herausforderung bleibt: Bis heute ist die Frage ein Streitpunkt, ob der Täter - wie in Erfurt etwa durch eine Kerze auch für ihn - in das Gedenken einbezogen werden kann. Auf jeden Fall muss mit den Angehörigen der Opfer geklärt werden, ob das für sie tragbar ist und was ihnen zugemutet werden kann.
KNA: Inwiefern hat der Amoklauf von Erfurt sich auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Kranemann: Es war ein Impuls, an der Erfurter Katholischen-Theologischen Fakultät solche Trauer- und Gedenkfeiern zu erforschen, übrigens auch für ähnliche Forschungen in anderen Ländern wie den Niederlanden. Wie Religionsgemeinschaften in verschiedenen Ländern mit solchen Feiern umgehen, haben wir unter anderem in zwei internationalen Tagungen erörtert.
KNA: Was kann die Rolle von Religion auch in einer weithin säkularisierten Gesellschaft nach solchen Amokläufen und anderen Katastrophen sein?
Kranemann: Das Zusammenstehen von Religionen und Weltanschauungen muss sich in pluralen Gesellschaften gerade angesichts solcher Erfahrungen der Gewalt bewähren. Dafür werden immer wieder Rituale benötigt, die Menschen zusammenführen und in denen Trost und Halt gefunden wird. Zu untersuchen, wie das gelingt, ist eine Aufgabe für die Liturgiewissenschaft.
Das Interview führte Gregor Krumpholz.