DOMRADIO.DE: Mitte August hat es ein Treffen in Lateinamerika gegeben, bei dem es um die Abholzung des Regenwaldes ging. Es endete ohne richtigen inhaltlichen Abschluss und ohne den Fokus auf die Gründe für die Zerstörung der grünen Lunge zu legen. Was haben Sie da beobachtet?
Dr. Rainer Hagencord (Theologe und Biologe, Leiter des Instituts für Theologische Zoologie e. V. in Münster): Ich beobachte in dem Feld eine gewisse Beiläufigkeit, mit der erwähnt wird, warum der Regenwald abgeholzt wird. Da wird fast beiläufig erwähnt, dass es erstens wegen des Anbaus von Soja stattfindet und zweitens wegen der Züchtung von Rindern.
Dann gehen 98 Prozent des Sojas in die Mastanlagen der Vereinigten Staaten und Europas. Das Rindfleisch wird fast zu 100 Prozent exportiert.
Die Verschleierung, die an dieser und an anderen Stellen deutlich wird, wird mir immer klarer. Damit meine ich, dass die Fleischindustrie offenbar zu mächtig ist, in diesem Fall die Fleischindustrie und die Fleischbarone, die in Lateinamerika wohl immer noch viel zu sagen haben.
Das eigentliche Thema lautet: Es geht um diese gnadenlose Ungerechtigkeit, und zwar nicht nur gegenüber den Tieren, die bei uns gehalten werden, sondern um eine Gnadenlosigkeit der Erde und den Armen gegenüber.
Denn der Fleischkonsum ist eines der größten Probleme insgesamt. An dieser Stellschraube wollen die wenigsten offenbar etwas verändern.
DOMRADIO.DE: Der Soja dient also gar nicht so sehr der direkten Linderung des Hungers der Menschen. Ganz aktuell reden Erdogan und Putin noch mal über das ausgesetzte Getreideabkommen. Es wird immer gesagt, dass es da um die Versorgung der Weltbevölkerung geht. Ist das so?
Hagencord: Letztlich kann man dazu ja sagen. Denn da die Menschen in der Welt sehr gerne ganz viel Fleisch essen, geht es auch um die Versorgung der Menschheit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Zahlen verändert haben. Als es vor einigen Monaten in dieser dramatischen Situation um genau dieses Getreide ging, war in Veröffentlichungen immer mal wieder zu lesen, dass drei Viertel des Getreides nicht in die Küchen der Armen fließen, sondern in die Massentierhaltung. Ich glaube nicht, dass sich daran etwas verändert hat.
Da sind wir beim gleichen Thema wie in Lateinamerika. Erstens ist es die Methode der Beiläufigkeit und zweitens wieder die Macht der Fleischbarone, die sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantiks so mächtig ist, dass sie offenbar nicht gebrochen werden kann.
Der Hunger der Leute in den Industrienationen nach möglichst viel immer billigerem Fleisch scheint unstillbar zu sein.
DOMRADIO.DE: Das ist eine andere Art von Hunger als der direkte Hunger. Haben Sie persönliche Erfahrungen mit Fleischindustriellen?
Hagencord: Mehrfach hatte ich vor einigen Jahren mit der Firma Tönnies, auch mit Herrn Tönnies persönlich zu tun. Tönnies ist derjenige, der in Rheda-Wiedenbrück, 30 Kilometer von Münster weg, eine der größten fleischverarbeitenden Industrien, einen der größten Schlachthöfe Europas betreibt.
Vor kurzem war ich mit jemandem im Gespräch, der dort seit Jahrzehnten das System Tönnies in seiner Funktion als Sozialarbeiter und als Mitglied im Stadtrat beobachtet.
Bei dem, was er erzählt, wird einem ganz schwindelig. Durch die Umstände der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass die Menschen, die in dem Schlachthof arbeiten, dort wie Sklaven und Sklavinnen gehalten werden. Das sind fast ausschließlich Menschen aus der Ukraine und anderen Ländern Osteuropas.
Das System Tönnies hat sich da in seiner Gnadenlosigkeit gezeigt - nicht nur den Tieren gegenüber, deren Würde mit Füßen getreten wird, sondern auch gegenüber der Würde der Menschen, die da arbeiten müssen.
Der Herr hat mir erzählt, wie wirksam dieses System Tönnies ist. Herr Tönnies gibt auch der Caritas und anderen wohltätigen Vereinen ständig Spenden, die sich dann kaum trauen etwas zu sagen.
Mein Gesprächspartner sprach von einer unfassbaren Gefühllosigkeit der Menschen dort, in deren Nachbarschaft die Menschen wie Sklaven gehalten werden und die offenbar überall die Augen oder auch die Herzen verschließen.
Das ist eine Formulierung von Coetzee, einem südafrikanischen Literaturnobelpreisträger, der schon vor 20 Jahren das unfassbare Buch "Das Leben der Tiere" geschrieben hat und hier eine Analogie vom Holocaust und dem Elend der industriellen Tierhaltung herstellt. Das ist sehr heikel. Aber er sagt das Gleiche. Was wir damals erlebt haben, erleben wir jetzt wieder. Die Gesellschaft verschließt ihre Herzen vor dem Elend der Menschen und der Tiere.
DOMRADIO.DE: Wie kann man denn so eine Gleichgültigkeit aushebeln und was können Kirchen aktiv tun?
Hagencord: Wenn die Kirchen in dieser Gesellschaft nicht als Anwältinnen der Herzen der Menschen fungieren, wer denn dann? Ich glaube sogar sagen zu können, dass die Kirchen noch eine große Macht haben. Wenn sie sich in dieses Feld begeben würden, dann könnten sie gesellschaftlich etwas bewegen. Das tun sie an vielen Stellen, aber jetzt noch mal mit einer deutlichen Ausdrücklichkeit.
Die Stellschraube, und damit meine ich eine Veränderung des Konsums mit Blick auf den Fleischverzehr, ist nicht so schwer umzustellen, zumal die Kirchen erstens die Macht über die Kantinen haben und zweitens immer noch eine wichtige Mitspielerfunktion in der Bildung haben.
Die Macht der Kantinen ist das eine. In Münster ist kaum ein Kantine nicht in kirchlicher Trägerschaft. Warum denn nicht endlich eine Kooperation mit den Landwirten und Landwirtinnen, die nach Bioland- oder Demeter-Kriterien erarbeiten, kleinbäuerliche Betriebe, die das Fleisch liefern?
Es muss nicht jeden Tag in den Kantinen Fleisch geben. Finanziell ist das alles machbar.
Zweitens haben die Kirchen immer noch die Macht über ihre Besitztümer. In Sachsen hat die Kirche beschlossen, keine Tierfabriken mehr auf Kirchenland zuzulassen. Dafür wäre jetzt die Zeit.
Der andere Bereich ist der der Bildung. Wie viele Kinder sind noch in der Erstkommunion- oder Firmkatechese? Wie viel sind noch im Religionsunterricht? Hier gibt es sehr viele Lehrerinnen und Lehrer, die sich nun dieses Themas in den Schulen annehmen. Da braucht es noch mal eine Bildungsoffensive.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.