DOMRADIO.DE: Am Donnerstag wurden die Zahlen der Kirchenstatistik für das vergangene Jahr veröffentlicht. Haben die Ergebnisse Sie überrascht?
Prof. Dr. Jan Loffeld (Professor für Katholische Theologie in Tilburg, Niederlande): Ich bin Priester des Bistums Münster, deshalb hat es mich persönlich gefreut, dass meine Heimatdiözese nun das deutsche Bistum mit den meisten Katholikinnen und Katholiken ist. (lacht) Aber das ist natürlich ein Pyrrhussieg, denn nach der Veröffentlichung der Kirchenstatistik steht die gesamte Kirche in Deutschland geschwächt da.

Die Zahlen haben mich nicht überrascht, denn sie zeigen, dass sich die Austrittszahlen auf einem insgesamt hohen Niveau eingependelt haben. Da scheint es nun eine gewisse Stabilität zu geben. Aber wenn man einmal die Zahlen aller in Deutschland aus der Kirche Ausgetretenen und der Verstorbenen zusammenlegt, dann sind wir bei einer Zahl von einer Million Menschen.
Den Kirchen fehlen seit dem vergangenen Jahr also so viele Menschen wie in Köln leben – eine Millionenstadt, die nicht mehr da ist. Allein die ausgetretenen Katholikinnen und Katholiken sind so viele, wie etwa in den Großstädten Bonn oder Münster leben.
DOMRADIO.DE: Ist es ein gutes Zeichen, dass im vergangenen Jahr rund 80.000 Menschen weniger aus der katholischen Kirche ausgetreten sind als noch 2023?
Loffeld: Ich fände es zu euphemistisch, es als ein "gutes Zeichen" zu bezeichnen, dass 2024 einige Zehntausend Menschen weniger die Kirche verlassen haben. Es sind immer noch sehr viele ausgetreten. Meiner Ansicht nach stabilisieren sich die Austrittszahlen.
Im vergangenen Jahr waren sie nun einmal etwas geringer, aber sie sind auf einem hohen Niveau – und werden es wohl auch bleiben. Denn die Tendenz zur Entkirchlichung ist weiterhin sehr stark und deutlich zu beobachten. Das lässt sich nicht stoppen.
DOMRADIO.DE: Es lässt sich anhand der neuen Kirchenstatistik also auch keine Trendwende absehen?
Loffeld: Nein, davon kann keine Rede sein. Wenn man die kirchensoziologischen Daten betrachtet, zeigt sich ganz klar: Die fortschreitende Entkirchlichung und die gesellschaftliche Säkularisierung schreiten weiter voran und verstärken sich sogar gegenseitig.
DOMRADIO.DE: Es gibt aber auch einige positive Zahlen der Statistik: Die Zahl der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher hat zugenommen, genauso wie die Zahl der Erstkommunionen. Taufen und Firmungen sind zudem etwa auf dem Niveau des Vorjahres geblieben.
Loffeld: Man sollte sich nicht einzelne Daten aus einem Jahr herauspicken, sondern muss sie im Kontext und mit Blick auf die Entwicklung der vergangenen Jahre lesen. Bei der Zahl des Kirchenbesuchs muss man sehen, dass wir nicht auf das Niveau der Jahre vor der Corona-Pandemie zurückgekommen sind. Dieser Einbruch der Zahlen vor fünf Jahren konnte noch nicht wieder wett gemacht werden.
Die positiven Zahlen, die Sie ansprechen, kann man auch als statistische Ausreißer verbuchen. Zudem darf man nicht vergessen, dass diese Angaben teilweise nur bedingt aussagekräftig sind. Denn in viele Kirchengemeinden wird der Gottesdienstbesuch nicht selten gerade dann erhoben, wenn die Kirche etwa zu besonderen Totengedächtnissen oder bei Brauchtumsfeiern am Sonntag besonders voll ist.
DOMRADIO.DE: Erstmals seit 2018 haben wieder mehr Protestantinnen und Protestanten als Katholikinnen und Katholiken die Kirche verlassen. Woran liegt das?
Loffeld: Bei der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) 2023, deren wissenschaftlichen Beirat ich angehören durfte, trat zum ersten Mal deutlich zu Tage, dass die Kirchenbindung der beiden großen Konfessionen inzwischen mehr oder weniger vergleichbar ist. Traditionell war die Bindung der katholischen Gläubigen an ihre Kirche stärker, bei den evangelischen Christinnen und Christen schwächer.
Das hat sich nun konfessionell angeglichen. Um die Zahlen der diesjährigen Kirchenstatistik an diesem Punkt zu verstehen, muss man auch sehen, dass es in der evangelischen Kirche im vergangenen Jahr eine Missbrauchsstudie gegeben hat. Aber um da eine verlässliche Aussage zu treffen, muss man die Zahlen der kommenden Jahre abwarten.
DOMRADIO.DE: Der DBK-Vorsitzende Bischof Georg Bätzing hat angesichts der Veröffentlichung der Kirchenstatistik dazu aufgerufen, neue Wege bei der Vermittlung des Evangeliums zu gehen. Kann Neuevangelisierung den Abwärtstrend bei der Zahl der Kirchenmitglieder stoppen?
Loffeld: Wenn die Kirchenstatistik vorgestellt wird, gibt es regelmäßig Aufrufe zu Veränderungen in der Kirche und zu mehr Verkündigung. So wie ich die Lage wahrnehme, haben gerade durch die religionssoziologischen Daten der letzten beiden Jahre viele Kirchenleitende und Theologen verstanden, dass die Kirche die gesellschaftliche Situation beinahe nicht verändern kann.

Es sollte daher die Frage zentral sein, was es für die Kirche in Deutschland bedeutet, eine immer kleiner werdende Minderheit zu sein. Das Zweite Vatikanische Konzil hat der Kirche ins Stammbuch geschrieben, dass sie eine Kirche in der Welt und nicht im Gegensatz zur Welt sein soll – aber das bedeutete in den 1960er-Jahren natürlich etwas anderes als in der Gegenwart.
Mein Eindruck ist aber, dass diese Frage in der Bischofskonferenz angekommen ist. Als Theologe, der versucht sich intensiv mit diesem Thema zu beschäftigen, kann ich aber sagen: Evangelisierungs- und Strukturveränderungsimperative werden die derzeitige Situation eher nicht verändern. Das heißt nicht, dass wir nicht neu fundiert über Katechese, Verkündigung und Glaubensinformation nachdenken müssen.
Je mehr Menschen in Deutschland Religion und Kirche gar nicht mehr wirklich kennen, desto mehr geht auch religiöses als kulturelles Wissen verloren. Ebenso wenig heißt es, dass Strukturprozesse keine Berechtigung hätten.
All das ist absolut notwendig, nicht um die Situation zu verändern oder gar zu verbessern, sondern um sich selbst nicht nur depressiv, sondern vor allem konstruktiv in der "Welt von heute" zu verorten.
DOMRADIO.DE: Bischof Bätzing hat in seiner Reaktion auf die Kirchenstatistik darauf verwiesen, dass die Gesellschaft auch von einer kleiner werdenden Kirche noch viel erwarte. Sehen Sie das auch so?
Loffeld: Es gibt in der Gesellschaft unterschiedliche Erwartungen an die Kirche. Meist soll sie stabilisierend in die Gesellschaft hineinwirken. Aber es gibt kaum religiöse Erwartungen an die Kirche. Beides muss man auseinanderhalten – was natürlich mit Blick auf das Selbstverständnis der Kirche eher schwierig ist.
Man kann da von einer vertikalen und einer horizontalen Perspektive sprechen. Die vertikale Ebene, also der christliche Glaube, ist für viele Menschen nicht mehr wichtig. Aber beide Ebenen der Kirche gehören zusammen, weshalb der Rückgang auf der vertikalen Ebene auch für die horizontale Perspektive, also dem Engagement der Kirche in der Gesellschaft, ein Problem darstellt.
Die christliche Ethik etwa, die von einer Gottebenbildlichkeit des Menschen ausgeht, lässt sich nicht mehr vertreten, wenn Gott keine Größe mehr ist. Außerdem ist der Kirche das zweckfreie Gotteslob aufgetragen. Das liegt zunächst jenseits aller Funktionalisierung des Glaubens. Wir glauben aber, dass es auch dem Menschen zugutekommt, wenn Gott gekannt, geliebt und geehrt wird.
DOMRADIO.DE: Im vergangenen Jahr haben Sie Ihr Buch "Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt" zum Thema der religiösen Indifferenz veröffentlicht. In den vergangenen Wochen gab es einige Reaktionen von Theologen auf Ihre Thesen. Freut Sie die erneute Aufmerksamkeit?
Loffeld: Mich freut die Aufmerksamkeit für das Thema. Im 20. Jahrhundert war die Frage nach der Kirche und ihrem Platz in der modernen Welt sehr virulent – denken Sie etwa an das Wort des Theologen Romano Guardini vom Erwachen der Kirche in den Seelen. Im 21. Jahrhundert merken wir aber nun, dass wir die Kirchenfrage eigentlich nur stellen können, wenn wir uns auch mit der Gottesfrage beschäftigen.

Um es einfach auszudrücken: Wenn niemand mehr an Gott glaubt, braucht es auch keine Kirche mehr. Zugleich braucht es für den Glauben zumindest langfristig auch die Kirche als Zeugnis- und Erzählgemeinschaft. Die Kirchenfrage ist so einerseits Bedingung der Möglichkeit der Gottesfrage, es geht aber auch andersherum.
Um die grundlegende Bedeutung der Gottesfrage geht es in meinem Buch und ich merke nun, dass es emotionale Reaktionen hervorruft – sowohl in konservativen als auch in progressiven Kreisen der Kirche. Aber ich halte es für erfreulich, dass Gott zumindest innerkirchlich Menschen immer noch beschäftigt.
Das Interview führte Roland Müller.