domradio.de: Das ist ganz schön schockierend, was da zum Teil für verbale Geschosse im Internet aufgefahren werden - gerade auch in der Flüchtlingskrise. Viele wirken geradezu enthemmt. Wie erklären Sie das?
Dr. Manfred Lütz: Ich glaube, dass im Internet einfach einige zivilisatorische Üblichkeiten, an die wir uns über Jahrtausende gewöhnt haben, wegfallen. Wir sind es einfach gewöhnt, wenn wir einem Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnen, ihm nicht sofort in das Gesicht zu schlagen oder ihn anzubrüllen. Im Internet gibt es das eben nicht. Es fehlen diese Hemmungen, und so fällt man bisweilen im Internet sozusagen hinter die Steinzeit zurück und reagiert mit seinen Aggressionen unmittelbar. Da kommen dann zum Teil unmenschliche Dinge auf.
domradio.de: Wenn ein paar Jahrzehnte Internet ausreichen, um Jahrtausende gelernte zivilisierte Umgangsformen einfach über den Haufen zu werfen, ist das ziemlich erschreckend, oder?
Dr. Manfred Lütz: Da reicht ja schon der Zugang zum Internet. Wenn ein Mensch bemerkt, dass er sich hier hemmungslos auslassen kann und andere das eben auch tun, dann ist das ein bisschen lernen am Modell. Das war auch in der Nazizeit so, wo es eine Gruppe gab, die gegen Juden hetzte. Dann hatten bestimmte schwächere Gestalten den Eindruck, das sei ganz normal. Daraus entwickelt sich eine gewisse Gruppen-Aggressivität. So etwas kann sich auch im Internet bilden.
domradio.de: Welche Rolle spielt es da, dass viele anonymisiert im Netz unterwegs sind? Fällt dann das Schimpfen leichter?
Dr. Manfred Lütz: Das glaube ich schon. Man steht nicht mehr als Person dafür ein - wobei man jetzt in letzter Zeit die Beobachtung macht, dass die Leute auch mit Klarnamen entsprechend aggressiv loslegen. Ich glaube, es ist auch ein Problem, dass bestimmte Üblichkeiten in der Öffentlichkeit nicht mehr klar sind; dass man zu wenig zur Gewissensbildung von Menschen tut. Dieser Bereich, auch der weltanschauliche Bereich, ist ja ein bisschen tabuisiert. Das Christentum hat Mitleid mit den Schwächsten und Ärmsten, und dass das Mitleid sozusagen eine christliche Erfindung ist, wissen viele Leute einfach nicht mehr. Gregor Gysi hat einmal gesagt, er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, der die Solidarität abhanden kommen könne. Sozialismus sein schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum. Also, auch die christlichen Kirchen müssten etwas offensiver mit dem, was sie zum Menschen zu sagen hat, in der Öffentlichkeit stehen und Menschen auch ins Gewissen reden.
domradio.de: Als zivilisierte Gesellschaft müssen wir ja sagen "so einen Rückfall in die Steinzeit" wollen und dürfen wir nicht hinnehmen. Was ist zu tun?
Dr. Manfred Lütz: Es wird ja schon einiges getan. Einige soziale Netzwerke haben Hasskommentare ausgeschlossen. Das ist auch ganz wichtig so, denn das machte ja neugierig. Je hasserfüllter das war, desto eher wurde es dann angeklickt. Diese ganzen Dinge müssten zurückgedreht werden. Da hat sich die Politik auch eingesetzt. Es müssen auch Sanktionsmöglichkeiten in diesem Bereich geprüft werden. Aber das ist eben nicht ganz so einfach, weil es auch technisch nicht ganz so einfach ist.
domradio.de: Haben Sie denn auch den Eindruck, dass auch speziell zwischen der Flüchtlingsthematik und der Aggressionssteigerung eine Verbindung besteht?
Dr. Manfred Lütz: Eine gewisse Verbindung besteht schon. Man hat den Eindruck, dass die Politiker ziemlich hilflos reagieren. Das ist eine Situation, die die Politiker aller Parteien offensichtlich überfordert. Die Menschen haben den Eindruck, der Staat kann nicht mehr richtig handeln. Die Kölner Silvesternacht hat viele Menschen verunsichert und Angst geschürt. Und Angst ist immer ein schlechter Berater. Dann entsteht so etwas wie eine diffuse Angst und eine diffuse Wut: "Wir können ja nichts tun, man schützt uns nicht", und Ähnliches. Das kann sich dann in solchen Aggressionen artikulieren.
Das Interview führte Hilde Regeniter.