Eine stundenlange Schießerei mit den Sicherheitskräften, ein getöteter Polizist und eine Spur, die zum historischen Erzfeind führt: Beinahe wären das die Zutaten für einen weiteren Krieg in Europa geworden.
Mit dem Angriff serbischer Extremisten auf die kosovarische Stadt Banjska am 24. September ist der Kosovo-Konflikt neu aufgeflammt. Dass die Angreifer sich auf der Flucht in einem serbisch-orthodoxen Kloster verschanzten, hat großen Symbolcharakter für den Konflikt, wie nun ein Experte berichtet.
"Brutal, barbarisch, animalisch" – Professor Radu Preda fehlt es nicht an Worten, den Identitätskampf zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit und der serbischen Minderheit im Kosovo zu umschreiben, der dieses Jahr wiederholt in Gewalt ausartete.
Einzig die Interpretation des Westens lasse zu wünschen übrig. Denn der Konflikt drehe sich um Volkszugehörigkeit gleichermaßen wie um Religion, betont der Theologe an der rumänischen Universität Babes Bolyai.
Rumänischer Theologe wirft beiden Regierungen Versagen vor
93 Prozent der Kosovaren sind ethnische Albaner und überwiegend Muslime, 1,5 Prozent ethnische Serben und fast ausschließlich Gläubige der serbisch-orthodoxen Kirche.
Seit Jahren wirft die serbische Minderheit der Regierung des kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti kulturelle und wirtschaftliche Unterdrückung vor.
Befeuert wird das Narrativ von der Regierung in Belgrad. Sie betrachtet den Kosovo bis heute als serbisches Territorium und steht im Verdacht, den Angriff auf Banjska unterstützt zu haben.
Mit Blick auf die Kosovo-Serben wirft Religionswissenschaftler Preda beiden Regierungen politisches Versagen vor. "Für Kosovos Serben gibt es keinen Rückzugsort mehr. Sie verschanzen sich buchstäblich und symbolisch in der religiösen Identität der orthodoxen Kirche."
Kirche als Schmelztiegel zwischen Glaube, Identität und Politik
Eine Glaubensgemeinschaft als Ersatz für Demokratie? Tatsächlich sehen viele Serben ihre Kirche inzwischen als "letzte Bastion für eine Identität, die staatlich nicht mehr vertreten ist", meint Preda.
Für Belgrad und Pristina kommt das einem Armutszeugnis gleich. Beide wollen bis 2030 EU-Mitglieder werden. "Aber wenn die Kirche für einige den letzten Rückzugsort darstellt, bedeutet das ein Fiasko für die Politik, ein vernichtendes Zeugnis.
Auf beiden Seiten sollte es eine stärkere und ausgereiftere Politik geben, aber das ist eindeutig nicht der Fall, weder in Serbien noch im Kosovo."
Im Norden Kosovos, wo die serbische Minderheit lebt, vermischen sich Glaube, Identität und Politik. Die Kirche dient als Schmelztiegel. Dagegen sei aus Sicht des Wissenschaftlers prinzipiell nichts einzuwenden.
Serbien als "eine Art russische Insel" in Europa?
Problematisch werde das Gemenge allerdings, wenn Religion in den Hintergrund rücke und selbst die Kirchenführer Politik vor das Evangelium stellen. "Das ist immer das Unheil der Orthodoxie gewesen", sagt Preda.
Dasselbe gelte auch für die russisch-orthodoxen Würdenträger. Er warnt vor einem Kirchenkonzept, "in dem Christus nicht mehr zentral ist".
Am 17. Oktober war Serbiens Präsident Aleksandar Vucic zu Gast bei Chinas Staatschef Xi Jinping. Doch die Belgrader Zeitungen berichteten noch von einem weiteren Treffen unter Freunden: In Peking habe Vucic ebenfalls Gespräche mit Wladimir Putin geführt.
Seit Jahren steht Serbien im Westen für seine enge Beziehung zu Russland in der Kritik. Im Interview mit Radio Free Europe warnte der deutsche Bundestagsabgeordnete Joe Weingarten (SPD) Serbien nun davor, "eine Art russische Insel" zu werden.
Religion hat sich mit identitätsstiftenden Strukturen verschmolzen
Mit Blick auf einen künftigen EU-Beitritt betonte er: "Man kann nicht Teil der Europäischen Union, Teil Europas und gleichzeitig ein russischer Verbündeter sein. Man muss sich entscheiden."
Geht es nach Religionswissenschaftler Preda, stehen die serbisch-orthodoxen Kirchenführer vor dem gleichen Dilemma wie Belgrad: einer Zerrissenheit zwischen den Großmächten, angespornt von Ideologie, Propaganda, Patriotismus, Opfermythen – und Gewalt.
"Die Religion hat sich verschmolzen mit diesen identitätsstiftenden Strukturen, die aus den Köpfen nicht mehr wegzudenken sind", so der Experte.
Im Fall des Kosovo hofft ausgerechnet der Theologe auf eine voranschreitende Säkularisierung als "friedensstiftende Entwicklung". Die Bewohner des europäischen Landes müssten "kapieren, dass sie sich auch auf Basis nichtreligiöser Realitäten verständigen können".