Theologe Schallenberg fragt nach Sinn der Kirche

Was würde fehlen ohne die Kirche?

Wozu brauchen wir heute noch Kirche? Die Amtskirche ist zerstritten, immer mehr Menschen kehren ihr den Rücken zu. Der Moraltheologe Peter Schallenberg fragt in seinem neuen Buch, was die Kirche trotzdem zu bieten hat.

Leere Stühle in einer Kirche / © MASSIMILIANO PAPADIA (shutterstock)
Leere Stühle in einer Kirche / © MASSIMILIANO PAPADIA ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: "Gott ist in unserer postmodernen Zeit so wenig bekannt und anschaulich wie Rotkäppchen oder die sieben Zwerge. Und die Kirche wird nur noch als nützlich wahrgenommen, wenn sie zur Verbesserung des diesseitigen Lebens entscheidend beiträgt, wie etwa in karitativen Einrichtungen", schreiben Sie in Ihrem Buch "Kirche ohne Moral?". Ist Gott heute noch so wichtig wie Rotkäppchen und Rübezahl?

Peter Schallenberg, Moraltheologe an der Theologischen Fakultät Paderborn und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) Mönchengladbach, am 23. Mai 2023 in Mönchengladbach / © KSZ (KNA)
Peter Schallenberg, Moraltheologe an der Theologischen Fakultät Paderborn und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) Mönchengladbach, am 23. Mai 2023 in Mönchengladbach / © KSZ ( KNA )

Prof. Peter Schallenberg (Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn): Ich bin natürlich der Auffassung, dass Gott wichtiger ist, sehr, sehr viel wichtiger als Rotkäppchen und Rübezahl. Aber ich habe den Eindruck, dass er in eine Schublade von Rotkäppchen und Rübezahl, also in die märchenhafte Überlieferung aus vergangenen Zeiten, abgelegt wird.

Das ist aber nicht meine Idee. Vielmehr bin ich durch Charles Taylor, einen kanadischen Philosophen, der umfangreich über die Gottvergessenheit in westlichen Gesellschaften geforscht hat, darauf gekommen. Dabei geht es nicht so sehr um eine Vergessenheit der Kirchen, die hat es durch alle Zeiten hindurch gegeben, die gab es in der Renaissance, zu Voltaires Zeiten, erst recht in der Französischen Revolution und, und und.

Das Phänomen der Gottesvergessenheit ist, glaube ich, in dieser flächendeckenden Weise neu. Im Grunde ist die Erfahrung von Gott inzwischen in der westlichen Welt auf null gesunken.

DOMRADIO.DE: Was fehlt den Menschen denn, wenn sie nicht an Gott glauben. Kann das Leben auch ohne Gott liebenswert sein?

Schallenberg: Auf jeden Fall. Wir brauchen den Leuten nicht einreden, dass sie krank sind, damit wir sie dann mithilfe Gottes gesund machen müssen. Hochentwickelte Länder dieser Welt zeigen, dass man einen florierenden Sozialstaat, einen Wohlfahrtsstaat haben kann, eine menschenwürdige Gesellschaft, die ganz ohne Gott auskommen kann. Es fehlt da gar nicht viel, außer es entdeckt jemand, dass es schön wäre, möglicherweise mehr zu hören, als der Alltag einem bereitstellt.

Ein Beispiel dafür kommt ursprünglich vom Philosophen Robert Spaemann, der sagt: Könnte es sein, dass ein Ungläubiger sich zum Gläubigen verhält wie jemand, der Ballett ohne Musik hört und wenn er Ballett mal mit Musik gehört hat, die Musik nicht mehr missen möchte?

DOMRADIO.DE: Aber dann muss man, um Gott zu vermissen, ihn irgendwie einmal erlebt oder erfahren haben?

Schallenberg: Das ist genau der Punkt. Wie kann man in einer entzauberten Welt den Zauber wieder reinbringen? Also in einer durchgestylten technischen Welt so viel Zauber wieder reinbringen, dass man sich danach sehnt, etwas von dem Zauber zu erfahren. Jedem, der nie den Zauber einer Mozartsonate erfahren hat, würden wir sehr wünschen und missionarisch auf die Sprünge helfen, dass er eine Mozartsonate hört. Das würde ich ungefähr mit der Gottesfrage verbinden.

DOMRADIO.DE: Sie zitieren in Ihrem Buch den Theologen Karl Rahner, der sagt: "Der Fromme der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein". Warum ist ihnen dieses Zitat so wichtig?

Schallenberg: Das zentrale Wort lautet hier: Erfahren. Es bringt nichts, Gott in das eigene rationale Denken einzubauen, in der Form, wie wir denken, dass eins und eins zwei ist. Natürlich sind wir auf die Gesetze der Naturwissenschaft, auf die Naturgesetze, auf die Mathematik angewiesen, weil wir sie zum Überleben brauchen, in der Medizin zum Beispiel, bis zur OP, zu allem.

Auf Gott sind wir nicht in der gleichen Weise angewiesen, sondern indem wir bestimmte Erfahrungen machen, kommen wir dann auch über Gott ins Nachdenken – und über die Möglichkeit, dass mich jemand in dieses Leben gestellt hat und mich jemand erwartet.

Das gilt für jeden Menschen, dass er das als einen sehr wertvollen Bestandteil seines Lebens erfährt. Das ist mit Erfahrung gemeint. Wie es aber zu dieser Erfahrung kommen kann, ist sehr rätselhaft.

DOMRADIO.DE: Ist der Mensch, der diese Erfahrung nicht macht, ein defizitärer Mensch?

Schallenberg: Defizitär ist sehr stark ausgedrückt, Ich würde sagen, er ist angreifbarer, verletzbarer als in dem Sinne defizitär. Er lebt in einer unerfüllten Sehnsucht. Die alte Theologie hätte wahrscheinlich gesagt: er lebt sehnsuchtsvoll. Desiderius naturale nannte man das, er hat das natürliche Verlangen, mehr zu erleben als nur den 100. Geburtstag.

DOMRADIO.DE: Sie schreiben weiter: "Wir benötigen eine mystische, nicht eine moralische Kirche in der inzwischen säkularen Welt". Warum beginnt denn da alles mit der Mystik? Warum fängt auch für die Kirche da alles an?

Schallenberg: Ein Beispiel: Denken wir an die Bitte im Vaterunser. "'Unser tägliches Brot gib uns heute". Das heißt ja eigentlich, unser Brot, das über unser tägliches Brot hinausgeht, gib uns jetzt schon, unser jenseitiges Brot gib uns jetzt schon, das ist ein Brot, das über die Alltäglichkeit und den rein technischen und biologischen Gebrauch des Lebens hinausgeht.

Die Kirche hat den Auftrag, solche Räume zur Verfügung zu stellen, genau das erfahrbar zu machen, in der Liturgie und in der Caritas, dass ein Raum entsteht, in dem ich verspüren kann, dass ich absolut geliebt werde.

Wenn sie nur einen Raum herstellt, in dem alles perfekt funktioniert, dann macht sie im Grunde nur das nach, was unsere normal entwickelte Welt auch schon tut.

DOMRADIO.DE:. Der Glaube an Gott ist also nicht dazu da, humanistische Grundwerte zu begründen und erfahrbar zu machen, wie Schutz des Lebens oder des Eigentums oder der Schutz von Ehe und Familie. Das könnte man auch alles aus einem Humanismus heraus begründen. Der Glaube an Gott kann aber durchaus dazu dienen, die Einhaltung dieser Grundwerte zu verstärken, zu verabsolutieren in der Verantwortung, sie auch einzuhalten?

Schallenberg: Immanuel Kant sagt, dass Gott, Seele und Unsterblichkeit dazu dienen, meine Kraft in die Verwirklichung absoluter Gutheit zu verstärken, damit der Mensch nicht vor der Zeit müde wird - damit der Mensch nicht den Eindruck hat, der Dumme gewinnt, damit man die Kraft hat, über den eigenen Schatten zu springen.

Bei Vergebung ist das ganz deutlich. Dazu muss ich bereit sein, etwas zu riskieren, mich zu riskieren, mich hinzugeben. Das wird befeuert und beflügelt von dem Gedanken, dass Gott mich auffängt, auch wenn ich den Eindruck habe, ich bin der dümmste aller Menschen.

DOMRADIO.DE: Das würde dann auch in einer Gesellschaft ohne Gott und Kirche fehlen? Diese Verstärkung und Verantwortung und Verabsolutierung der menschlichen Gebote?

Schallenberg: Das würde ich so sagen. Eine Verstärkung dessen, was jeder Mensch von Natur aus für fair und gerecht ansieht, wird verstärkt durch den Gedanken: Ich muss das nicht tun, weil es dem Naturrecht und dem Naturgesetz entspricht, sondern ich möchte das tun, weil Gott mich dazu befähigt, weil Gott das von mir erwartet, weil Gott große Hoffnungen in mich setzt.

DOMRADIO.DE: Sind Sie denn optimistisch, was die Zukunft der Kirche betrifft? Im Augenblick bietet sie uns eher ein peinliches Bild - mit viel Krach und Gezänk. Das will doch keiner, der nach Sinn und Erfüllung sucht und sich da öffnen möchte, um Gott in der Kirche zu erfahren.

Schallenberg: Da haben Sie vollkommen recht. Punkt, Absatz. Umso wichtiger wäre es, deutlich zu machen, was denn die eigentliche Aufgabe der Kirche ist. Was hätte sie eigentlich zu tun und was soll sie tun? Das fängt aber bei jedem einzelnen von uns an.

Das hat jetzt nicht so sehr mit der berühmt berüchtigten Amtskirche zu tun, mit den Schreibtischen und den Amtsblättern und den Streitigkeiten und der Rechthaberei, sondern das hat damit zu tun, dass jeder Einzelne darüber nachdenkt: Warum bin ich getauft? Was bietet mir das für einen Horizont? Was gäbe es für Möglichkeiten, wenn ich zu den Sakramenten gehe, an der Liturgie teilnehme? Das ist das Entscheidende, was Kirche ausmacht.

Das Interview führte Johannes Schröer.

Quelle:
DR