DOMRADIO.DE: Hand aufs Herz: Würden Sie Gollum, Orks und Ringgeister mit einem Gottesdienst verbinden?
Prof. Dr. Matthias Sellmann (Zentrum für angewandte Pastoralforschung, ZAP, an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum): Ja, ich würde das. Das darf, glaube ich, aber nicht dauernd passieren. So eine Emotionalität und so eine weltanschauliche Botschaft, wie sie in "Herr der Ringe" ist, kann man aber durchaus im Gottesdienst verwenden und auch dem Gottesdienst damit ein Motto geben. Das würde ich befürworten.
DOMRADIO.DE: Es stellt sich dann auch die Frage, wie man so einen Gottesdienst gestaltet. Es gab vor wenigen Monaten bereits Taylor-Swift-Gottesdienste. Taylor Swift ist sehr beliebt und im Moment weltweit ein absoluter Megastar. Jetzt könnte man aber auch ein Spielverderber sein und sagen, dass eine Sängerin, die in sexy Posen eine Bühnenshow abzieht, nichts mit einem Gottesdienst zu tun hat.
Sellmann: Das würde ich anders sehen. Ich weise immer darauf hin, dass gestandene Pastoren und Pfarrer Ihnen wahrscheinlich jetzt jede Menge erzählen könnten, dass fast jeder Gottesdienst zu einer Hochzeit ein Motto-Gottesdienst geworden ist. Es gibt sehr viele Erstkommunion-Gottesdienste und Firmgottesdienste, wo die Jugendlichen sich vorher ein Motto gegeben haben.
Das ist uns eigentlich gar nicht fremd. Ich weise auch darauf hin, wie dankbar wir als Gesellschaft sind, wenn die Kirche zum Beispiel bei großen Unglücken oder Amokläufen als Motto ihre Kathedralen zur Verfügung stellen.
Ich möchte auch hinzufügen, dass die katholische Kirche eigentlich immer so klug war, so etwas wie Volksreligiosität mit der normalen und auch kirchenamtlich und dogmatisch gut und robust gesicherten Liturgie in Verbindung zu bringen. Das war eigentlich immer die Stärke katholischer Frömmigkeit.
Da müssen wir, glaube ich, ein bisschen aufpassen, dass die "Eliten" in Liturgie und Theologie nicht zu stark abheben. Es ist total wertvoll, wenn Menschen gerne in einen Gottesdienst gehen. Es ist total wertvoll, wenn Menschen Gefühle, die sie anderswo haben, mit in den Gottesdienst nehmen können. Und es ist auch total wertvoll, wenn die Kirche Anerkennung und Respekt zeigt vor dem, was Menschen unterhält und was ihnen gefällt.
Natürlich gibt es Grenzen. Es gibt ethische Grenzen, es gibt auch liturgische Grenzen. Und es gibt Dinge, die nicht passen. Aber ehrlich gesagt, wissen das die Leute selber. Das merken sie selber, dass bestimmte Dinge in die Kirche passen und bestimmte Dinge nicht in die Kirche passen.
Das ist zum Beispiel da der Fall, wo es respektlos gegenüber Armen wird oder auch respektlos gegenüber der Pietät und der Frömmigkeit von meinem Nachbarn und meiner Nachbarin. Da haben unsere Seelsorger und Seelsorgerinnen aber eigentlich ein ganz feines Gespür für und können das im Vorfeld sehr gut moderieren.
DOMRADIO.DE: Eine Eucharistiefeier hat einen klaren Ablauf, und da ist ja auch längst nicht alles erlaubt. Eignen sich dann also eher Wortgottesdienste für solche Motto-Projekte? Oder wäre das auch in einer heiligen Messe denkbar, ohne dass der Ortsbischof sich große Sorgen machen muss?
Sellmann: Ja, ich glaube, es läuft schon unglaublich viel im Jugendbereich. Auch im Kasualienbereich läuft schon total viel. Ich sage mal ein bisschen scherzhaft: Ich glaube, so ein Ortsbischof ist auch ganz froh, wenn er nicht alles weiß, was in Kirchen passiert.
Ehrlich gesagt wollen wir doch gerne, dass in Kirchen viel passiert und dass dort Menschliches passiert, dass dort nicht einfach nur irgendein spezialisiertes Liturgentum abläuft, sondern dass dort die ganze pralle Welt und das ganze pralle Leben vor Gott gebracht werden. Da darf hin und wieder auch formal oder von den Schemata her mal ein bisschen was gedehnt werden.
Wir haben doch eher heute die Sorge, dass Menschen gar nicht mehr in die Kirche finden, dass Menschen Kirchenräume als steril empfinden und dass sie Liturgie und auch geistliche Autorität abschreckend finden. Ich will jetzt hier nicht allem das Tor öffnen, aber ich würde doch für eine breite Toleranz und für eine kluge Handhabung dieser Frage votieren.
Das kann ich mir durchaus auch in einer Eucharistiefeier vorstellen. Ich denke aber zum Beispiel auch an "The Passion", was es bei RTL am Karsamstag gab. Das kann dann auch ganz toll und eine neue Form von Wortgottesdiensten oder Statio-Gottesdiensten sein.
DOMRADIO.DE: Wichtig ist bei aller Verheutigung des Evangeliums, wenn man also die Botschaft Jesu heute zu den Menschen bringt, dass man nicht in eine billige Anbiederung verfällt. Gibt es da so etwas wie eine Grenze, wo Sie sagen würden, da müsse man aufpassen, dass man als Christen authentisch bleibt?
Sellmann: Es gibt eine Grenze, die sehe ich aber nicht da, wo üblicherweise irgendwelche Grenzen gezogen werden. Die jesuanische Botschaft ist eine Botschaft, die sagt: Komm aus dir raus, also sei nicht mit dir selbstzufrieden; komm auch aus deinen Gefühlen, komm aus deiner Lebensidee raus und öffne dich für den Nachbarn, öffne dich für die Not, öffne dich für diese Welt, öffne dich auch für Verantwortung, für Aufgaben und öffne dich für Gott, der dir dabei hilft, dich dabei so zu öffnen.
Das muss gewahrt bleiben. Das kann ich aber auch mit Popmusik, das kann ich mit Fußball, das kann ich genauso mit Kräutersegen, Feuerwehr, Polizei und Mode. Ich kann es, glaube ich, auch mit Erotik. Es ist komisch, wenn wir Angst vor Lebensäußerungen von Menschen haben. Das ist seltsam.
Aber wir würden immer darauf hinweisen, dass diese Jesus-Dynamik auf Transformation geht. Die geht auf Metanoia, auf Veränderung, auf Umkehr. Das tut sie aber nicht in einem ethisch-anstrengenden, mahnenden und asketischen Sinn, sondern um noch mehr zu leben, um noch mehr zu fühlen, um noch mehr in dieser Welt beheimatet zu sein. Das kann, glaube ich, sehr schöne Synthesen geben.
DOMRADIO.DE: Es ist ja immer auch eine Frage nach der Nachhaltigkeit. Natürlich kann man die Kirche zu besonderen Events voll kriegen. Aber besteht nicht die Gefahr, dass das einzelne Events bleiben, die die Leute aber nicht wirklich nachhaltig beeindrucken?
Sellmann: Wir kriegen die Kirchen nicht mehr voll. Wir kriegen sie auch mit so etwas nicht mehr voll. Es kann auch gar nicht die Idee sein, die Kirche voll zu kriegen. Das wird sofort durchschaut, wenn das eine Taktik wird oder nur ein taktisches Reagieren auf Wünsche und Bedürfnisse von Menschen.
Wir dürfen uns da nichts vormachen. Wenn Menschen überhaupt noch den Wunsch haben, ihre Lebenswelt und ihre großen weltanschaulichen Gefühle und auch ihre Sorgen mit der kirchlichen Sprache in Verbindung zu bringen, dann sollten wir erst einmal froh und dankbar sein. Wir sollten eher von den Leuten lernen, als dass wir denken, die wollen von uns was lernen oder könnten von uns etwas lernen.
Wir sind in Zeiten großer religiöser Indifferenz, die sich ausbreitet. Da müssen wir aufpassen, unseren Platz in der Kultur zu behalten. Ich will auch nicht ängstlich und defensiv und auch nicht unter unserem Niveau runterkommen. Alles, wo Gott erfahren wird, wo Kraft erfahren wird und wo Schönheit erfahren wird, ist sofort nachhaltig, weil Menschen das wiederholen wollen. Da braucht man sich keine Sorgen zu machen.
Allerdings darf man es auch nicht zur Mitgliederrekrutierung oder zum Füllen von Gottesdiensten missbrauchen. Kirche bietet einen Platz an, Kirche bietet eine Sprache an, Kirche bietet Rituale an, Kirche bietet einen Zugang zu Gott an. Wo Menschen das mit ihrer Lebenswelt verbinden können und wo die Kirche sagt, das ist im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch statthaft und würdig – es geht hier auch um Würde von Kirchenräumen – da freuen wir uns, wenn solche Begegnungen zustande kommen.
Das Interview führte Mathias Peter.