Theologe sieht Sorgen von Bundeswehrsoldaten in Kriegszeiten

Militärseelsorge wurde viel in Anspruch genommen

Welche Sorgen haben Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr während des Krieges? Der katholische Theologe und ehemalige Militärpfarrer Heinrich Dierkes registriert eine gestiegene Nachfrage von Gesprächen bei der Militärseelsorge.

 Soldat mit Gotteslob in der Hand
 / © Julia Steinbrecht (KNA)
Soldat mit Gotteslob in der Hand / © Julia Steinbrecht ( KNA )

KNA: Vor einem Jahr hat Russlands Krieg gegen die Ukraine begonnen. Was hat sich seitdem für die Menschen in der Bundeswehr verändert?

Heinrich Dierkes, Regierungsdirektor und stellvertretender Leiter des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis), am 3. Februar 2023 in Hamburg. / © Clara Engelien (KNA)
Heinrich Dierkes, Regierungsdirektor und stellvertretender Leiter des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis), am 3. Februar 2023 in Hamburg. / © Clara Engelien ( KNA )

Heinrich Dierkes (Stellvertretender Leiter des Hamburger Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften, zebis): Krieg ist für sie auf einmal konkret und direkt geworden. Von der Marine übers Heer bis zum Sanitätsdienst ist das Bewusstsein für den Krieg überall im täglichen Dienst angekommen. Der Sanitätsdienst etwa versorgt ja seit Kriegsbeginn in den Bundeswehrkrankenhäusern Verletzte aus der Ukraine.

KNA: Krieg ist erst jetzt konkret geworden - trotz der Bundeswehreinsätze in Mali oder Afghanistan?

Dierkes: Es ist etwas anderes, ob ich mit gerade einmal 2.000 Mann in Afghanistan bin und dort überwiegend Friedensförderung betreibe, oder ob ich die gesamte Bundeswehr-Struktur auf Krieg in Europa einstelle.

Mit der sogenannten Zeitenwende ist der Bundeswehr klar geworden, dass Kämpfe in Europa auch für sie nicht nur Theorie sind. Die Soldatinnen und Soldaten merken, dass ihnen Waffen und Material entzogen werden - die ja häufig auch eher rudimentär vorhanden sind.

Sie bilden ukrainische Soldaten daran aus und werden an den Grenzen zu Russland stationiert. Auch die Drohgebärde von Russlands Präsidenten Wladimir Putin, Atomwaffen einzusetzen, geistert plötzlich wieder als reales Szenario herum. All das verändert das Leben der Soldatinnen und Soldaten massiv.

Heinrich Dierkes (Stellvertretender Leiter des Hamburger Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften, zebis)

"Es wird ernst, […] ich könnte töten müssen oder auf mich könnte geschossen werden."

KNA: Wie gehen die Betroffenen damit um?

Dierkes: Ich höre aus der Fläche, dass sie deutlich mehr um Gespräche bei der Militärseelsorge bitten. Noch nie wurde sie so viel in Anspruch genommen. Dass es Angst gibt, sieht man allein daran, wie viele Leute jetzt den Kriegsdienst verweigern. Die Bundeswehr besteht ja nicht aus lauter Wüterichen und Kriegern, die schießen und ballern und kämpfen wollen.

Einige sind beispielsweise zur Bundeswehr gegangen, weil sie dort zum Beispiel die Möglichkeit bekommen, zu studieren und währenddessen schon ein gutes Gehalt zu verdienen. Die Versorgung und das Verlässliche insgesamt stimmt. Jetzt merken sie: Es wird ernst, ich bin ja noch Soldat; ich könnte töten müssen oder auf mich könnte geschossen werden.

KNA: "Du sollst nicht töten" ist eines der zehn Gebote. Wie ist das mit der Arbeit von Streitkräften ethisch vereinbar?

Dierkes: Laut vielen Bibelwissenschaftlern lautet die korrekte Übersetzung aus dem Hebräischen "Du sollst nicht morden". Dass ich mich verteidigen darf, wenn ich angegriffen werde, gilt auch nach der Bibel als zulässig - sofern ich meinen Gegner nicht zu zerstören und zu vernichten suche.

Das Mittel der Gewalt muss eingehegt werden. Auf die russische Seite mit ihren Söldnern, mit Vergewaltigungen und mit gezielten Angriffen auf zivile Ziele trifft das im Augenblick nicht zu. Zu morden ist Teil der russischen Kriegsführung.

Heinrich Dierkes (Stellvertretender Leiter des Hamburger Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften, zebis)

"Im Unterricht betreiben die Militärseelsorger*innen vor allem Gewissensbildung"

KNA: Das Zentrum für ethische Bildung ist neben der Ausbildung und Unterstützung evangelischer, katholischer und jüdischer Militärseelsorger auch für die Streitkräfte zuständig, also für den sogenannten Lebenskundlichen Unterricht. Was passiert da?

Dierkes: Im Unterricht betreiben die Militärseelsorgerinnen und -sorger vor allem Gewissensbildung, so dass jeder Soldat und jede Soldatin aufgefordert ist, selbst zu entscheiden - denn das ist Teil der Menschenwürde. Dass der deutsche Soldat Bürger bleibt, der sich nach seinem Gewissen zu entscheiden hat, war eine Folge des Zweiten Weltkrieges, nach dem viele Soldaten sich entschuldigt haben mit der Begründung: Ich musste einem Befehl gehorchen; nicht ich bin schuldig, sondern derjenige, der mich befohlen hat. Die Gründungsväter der Bundeswehr haben gesagt: Dazu darf es nie wieder kommen.

KNA: Welchen Stellenwert hat die Militärseelsorge für die Kirchen?

Dierkes: Militärseelsorge ist ein wichtiger Bereich für die Kirchen, weil es Seelsorge am Arbeitsplatz ist, wo man unmittelbar mit den Menschen zu tun hat. Soldaten sind in ihrer Sprache sehr direkt - und ich, als Seelsorger, darf da nicht herumschwurbeln. Ich muss konkret sein und bleiben - in meinem Tun und in meiner Sprache. Das wird gut wahrgenommen. In der Militärseelsorge können wir Menschen wirklich in Gewissensentscheidungen begleiten, sie dahinführen.

Das Interview führte Clara Engelien.

Quelle:
KNA