Theologe sieht Vereinbarkeit von Christentum und Queerness

Ist Homosexualität biblisch?

Eine Gendertheorie, die den Unterschied zwischen Mann und Frau leugnet, hat der Vatikan in seiner jüngsten Erklärung "Dignitas infinita" abgelehnt. Kann man die biblische Aussage "als Mann und Frau schuf er sie" auch anders verstehen?

Mosaik, das Adam und Eva im Garten Eden abbildet / © docent (shutterstock)
Mosaik, das Adam und Eva im Garten Eden abbildet / © docent ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Gott schuf den Menschen als Mann und Frau – so steht es im Alten Testament. Das ist eine eindeutige Aussage, auf die sich der Vatikan und der Katechismus berufen. Das ist ein Schöpfungsprogramm, das keine Zweifel offen lässt, oder? 

Prof. Thomas Hieke (privat)
Prof. Thomas Hieke / ( privat )

Thomas Hieke (Professor für katholische Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz): Wenn man das als binär deutet, so wie in der Digitaltechnik "null" und "eins" und dazwischen gibt es nichts, dann klingt das eindeutig. Wenn man den Text liest, findet man weitere solcher Paare: Licht und Dunkel, Meer und Land, Tag und Nacht. Und wenn man diese Paare anschaut, merkt man, da gibt es ja doch einiges dazwischen; zwischen Meer und Land gibt es das wunderschöne Wattenmeer, zwischen Licht und Dunkel gibt es die Morgendämmerung und die Abenddämmerung. So gibt es zwischen dem eindeutigen Mannsein und Frausein vielleicht auch etwas dazwischen. Interessant ist darüber hinaus, dass nicht die Begriffe für Mann "isch" und Frau "ischscha" da stehen, sondern "zakar" und "nekevah". Das ist Hebräisch und bedeutet männlich und weiblich. Es handelt sich also um Adjektive. Vielleicht ist das auch schon ein Hinweis darauf, dass es da noch ein bisschen mehr geben kann. 

Thomas Hieke

"So gibt es zwischen dem eindeutigen Mannsein und Frausein vielleicht auch etwas dazwischen."

Ein Mann blättert in einer alten Bibel / © Doidam 10 (shutterstock)
Ein Mann blättert in einer alten Bibel / © Doidam 10 ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Nun geht es im Alten Testament aber weiter. Es heißt zum Beispiel, es wäre ein Gräuel, wenn du mit einem Mann schläfst, wie man mit einer Frau schläft. Praktizierte Homosexualität ist hier nicht nur Sünde, sondern sogar ein Gräuel. Auch das sieht der Vatikan ähnlich und spricht von einer schlimmen Abirrung. 

Hieke: Es ist interessant, dass immer dieser Vers angeführt und der Kontext außer Acht gelassen wird. Dieser Vers steht in einem Zusammenhang, bei dem allerlei Praktiken verboten werden, die nicht zu Nachkommen führen. Der Abschnitt beginnt etwa mit dem Verbot, mit einer menstruierenden Frau zu schlafen. Warum? Weil eine menstruierende Frau nicht schwanger werden kann. Dann geht es noch weiter: Du sollst dich nicht mit einem Tier begatten. Dabei zeugt man auch keine Nachkommenschaft. Man soll alles verhindern, was einen davon abhält, Nachkommen zu zeugen, und zwar Nachkommen in der richtigen sozialen Ordnung. Diese Nachkommensvermeidung kann eine kleine Gemeinschaft, deren Identität und deren Existenz gefährdet ist, nicht dulden. 

DOMRADIO.DE: Aber warum lässt sich daraus nicht ableiten, dass Sexualität nur dann richtig und erlaubt ist, wenn sie die Möglichkeit einschließt, Nachkommen zu zeugen? Alles andere an Sexualität wäre demnach dann überflüssig... 

Hieke: In der Natur, bei den Tieren genauso wie beim Menschen, gibt es ganz viel Sexualität, die oftmals auch nicht zu Nachkommenschaft führt. Das ist erstaunlich. Da ist die Natur ist unglaublich verschwenderisch. Da fragt man sich: Was ist jetzt hier widernatürlich? Eine ganz eng gefasste, fixierte Sexualität, die mir eigentlich keine Sexualität erlaubt, mit ganz wenigen Ausnahmen? Oder ist es eher natürlich, freigiebig, verschwenderisch, voller Leben zu sein? 

DOMRADIO.DE: Die göttliche Offenbarung, auf die sich die Kirche aufgrund der Zeugnisse aus der Bibel beruft und in der katholischen Kirche auch aufgrund der Überlieferungen der Kirchengeschichte, steht den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber. Muss denn die göttliche Offenbarung überhaupt die humanwissenschaftlichen Befunde integrieren? Steht sie da nicht unangefochten drüber? 

Hieke: Wenn wir die göttliche Offenbarung in Reinkultur hätten, vielleicht schon. So ist es aber leider nicht. Wir haben Gottes Wort in Menschenwort. Damit ist das Ganze immer von Menschen verfasst, die im Auftrag Gottes gesprochen haben und es wird von Menschen gelesen und interpretiert. Dabei können auch viele Fehler und Ungereimtheiten passieren. Wir haben die göttliche Offenbarung nicht in Reinkultur. 

Thomas Hieke

"Wir haben die göttliche Offenbarung nicht in Reinkultur."

Galileo Galilei / © Gemeinfrei
Galileo Galilei / © Gemeinfrei

Und jetzt noch einmal zum Verhältnis zwischen göttlicher Offenbarung und Naturwissenschaften: Wenn die Naturwissenschaften etwas mit hinreichender Wahrscheinlichkeit herausgefunden haben, zum Beispiel, dass wir heute wissen, dass die Erde nicht im Zentrum steht und die Sonne sich darum dreht, sondern dass die Erde eine Kugel ist, ein Ellipsoid, der sich um die Sonne dreht, dann steht da keine göttliche Offenbarung dagegen. Wir hatten das Problem schon mal mit Galilei. Bei der Rehabilitierung des Galileo Galilei hat Papst Johannes Paul ll. im Jahr 1992 gesagt, dass das Problem nicht die Naturwissenschaften waren, sondern offensichtlich die Bibelinterpretation. 

DOMRADIO.DE: Nun behauptet die katholische Glaubenskongregation in Rom, die Kirche habe keine Vollmacht, ihre grundsätzliche Ansicht zu praktizierter Homosexualität zu ändern. Sie sagen aber, die katholische Kirche wird ihre Haltung ändern, früher oder später. Was macht Sie da so sicher? 

Hieke: Bis vor einiger Zeit war es in der katholischen Kirche unangefochten eine feste Lehre, dass die Todesstrafe als ultima ratio, als letzter Ausweg, erlaubt und möglich sei. Papst Franziskus hat das geändert, und zwar relativ autonom. Seit einiger Zeit ist die Todesstrafe unter keinen Umständen erlaubt. Solche kleinere Änderungen gibt es - sehr zum Leidwesen übrigens der konservativen US-amerikanischen Bischöfe. Und so wird es immer wieder Veränderungen in der Entwicklung der Lehre geben, wie es sie immer wieder gegeben hat. 

Noch ein Beispiel: Es ist eine lange Tradition gewesen, in der christlichen Kirche auf das Judentum herabzusehen, das Judentum zu verachten und die Juden als Gottesmörder hinzustellen. Mit dieser Tradition hat die Kirche Gott sei Dank auch gebrochen. Man kann Traditionen, wenn man erkennt, dass sie schlecht sind, auch aufgeben. Und man muss das auch tun. Sich einfach nur hinzustellen und zu sagen "wir können nicht" ist für mich kein Argument. 

Das Interview führte Johannes Schröer.

Quelle:
DR