DOMRADIO.DE: Sie haben sich mit Tieren aus theologischer Perspektive beschäftigt, speziell auch mit Drachen. Der Drachen sei das “All-in-one-Tier”, haben Sie gesagt. Wie haben sie das gemeint?
Professor Thomas Ruster (Schwerpunkt Systematische Theologie und Dogmatik, Experte für Tiertheologie): Der Drachen kommt sehr häufig in der mittelalterlichen Kunst vor. Man glaubte auch, dass Drachen tatsächlich irgendwo leben.
In Wirklichkeit war es aber eine Kombination von all den schrecklichen Merkmalen der Tiere, die den Menschen damals ganz real bedrohen konnten. Der Löwe, das Krokodil, die Schlange, der Adler mit den Flügeln. Der Drachen steht gleichsam für die Kombination der Bedrohungen aus der Tierwelt, die damals den Menschen Angst machten.
DOMRADIO.DE: Und er repräsentiert auch die vier Urgewalten der Natur.
Ruster: Ja, er kriecht auf der Erde, er kann fliegen in der Luft, er speit Feuer, und er kann auch im Wasser schwimmen. Er vertritt die vier Elemente und damit eben die Natur als Ganzes.
DOMRADIO.DE: In der christlichen Kunst kommt er sehr häufig vor. Wir denken an den Sankt Georg, an den Sankt Michael. Welche Funktion hat der da?
Ruster: Christen beten im Vaterunser "Erlöse uns vom Bösen". Und sie glauben, dass sie erlöst sind. Aber wie macht man das konkret? Wie kann man das anschaulich machen? Und dann wird der Drache als die Ausgeburt des Bedrohlichen und damit zugleich des Bösen zu dem Wesen, was überwunden, was besiegt werden muss, um das Böse und darum vom Bösen zu erlösen.
DOMRADIO.DE: Und da passiert dann etwas Spannendes. Es gibt eine Veränderung in der Art der Drachendarstellung. Das Bedrohliche verschwindet zunehmend. Der Drachen wird gezähmt?
Ruster: Das ist sehr spannend. Die Drachenlogik ist eigentlich eine Schwarz-Weiß-Logik. Also zwischen den Guten und den Bösen. Und die Guten bekämpfen die Bösen und zerstören sie durch Gewalt, mit dem Schwert und mit der Lanze. Damit ist das Böse ausgerottet. Also Erlösung vom Bösen durch Gewalt. Das ist aber eine Methode, die sich offenbar in der Geschichte nicht so gut bewährt hat.
Es kommt im Mittelalter und sicher auch noch später zu dem Gedanken, man müsse diese Schwarz-Weiß-Logik aufgeben, dieses Feind-Freund-Verhältnis, um mit dem Bösen anders umgehen zu können, um es gleichsam davon erlösen zu können, immer nur böse sein zu müssen. Und diese Entwicklungen lassen sich auf spannende Weise in der mittelalterlichen Kunst nachweisen und noch viel weiter, sogar bis heute, bis zu Frau Malzahn, dem gebändigten Drachen aus "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer".
DOMRADIO.DE: Im späten Mittelalter wird der Drachen, ganz so wie sie es beschrieben haben, sogar zu einer Art niedlichem Kuscheltier.
Ruster: Ja, man sieht diese Darstellungen der Himmelskönigin oder der Muttergottes oder auch von "Anna selbdritt", also Anna, Maria und Jesus. Da ist der Drachen so eine Art kleines Kuscheltier, auf dem diese Frauen tanzen und sich bewegen und ganz entspannt damit umgehen und damit auch fast spielen.
Wenn man so etwas darstellt, muss das auch einen Hintergrund im Denken der Zeit, im Fühlen der Zeit, gehabt haben. Und das hat mich interessiert, dem näher zu kommen.
DOMRADIO.DE: Und heute? Wie sie schon erwähnten, gibt es den Drachen bei Jim Knopf, es gibt den Grüffelo, der auch eine Art Drachen ist oder die vermenschlichten Drachen aus den populären Filmen "Drachenzähmen leicht gemacht." Welche Funktion hat der Drachen da?
Ruster: Das sind Boten davon, dass man der Schwarz-Weiß-Logik des bösen und dann brutal erledigten Drachens nicht um jeden Preis folgen muss. Ich habe diese Texte über die Drachen zu dem Bildband "Krallen, Federn, Drachenblut" während des Ukrainekrieges geschrieben, während des russischen Angriffskrieges. Da hat man ja diese Wiederkehr der Schwarz-Weiß-Logik gesehen und weiß ihr nicht zu entkommen. Ich werfe das niemandem vor, aber trotzdem weiß man: Das kann nicht die Lösung dieses Konfliktes sein.
Vielleicht entwickeln sich evolutionär im menschlichen Geist mehr und mehr Modelle, die das Böse gewissermaßen entdämonisieren. Also ihm eben seine Drachenhaftigkeit nehmen und nach dem Vorbild der spätmittelalterlichen Kunst auf neue Weise mit dem Bösen umgehen, es kulturell einbinden, es sich zunutze machen und anders damit umgehen. Da gibt es viele Vorbilder, und die wirken eben auch in diesen modernen Drachendarstellungen immer noch nach.
DOMRADIO.DE: Das Denken und Fühlen im späten Mittelalter war ja ein ganz anderes. Tiere wie Löwen, Elefanten und Giraffen kannten die Menschen, die hier in Mitteleuropa lebten, nur von Erzählungen und wussten gar nicht, wie die aussehen. Ebenso wenig kannten sie natürlich Drachen. Haben die Menschen wirklich geglaubt, dass es Drachen gibt, so wie es Elefanten und Löwen gibt?
Ruster: Das war schon eine sehr verbreitete Vorstellung. Es gab Reiseromane, damals viel gelesen, die davon berichteten, wie ein französischer Reisender bis in den Fernen Osten gekommen ist und da tatsächlich Drachen gesehen haben will und andere Wesen.
Oder Hildegard von Bingen hat behauptet, das Fett von Drachen heile bestimmte Krankheiten, was ja voraussetzt, dass sie irgendwie auch Drachen kannte, denen man Fett entnehmen konnte. Es ist aber nicht überliefert, dass sie wirklich Drachenfett zu Heilungszwecken eingesetzt hätte.
DOMRADIO.DE: Herr Professor Ruster, gibt es Drachen?
Ruster: Ja, es gibt Drachen. Drachen als eine Vorstellungsfigur, die uns tatsächlich im Griff hat, bis heute noch bis in die Kriege hinein. Sie haben eine Wirklichkeit – nicht als physisches Wesen, aber als das, was Macht über uns hat.
Das Interview führte Johannes Schröer.