Theologin forscht zu Gemeinwohl und christlichem Input

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Postwachstum, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Mit diesen Themen beschäftigt sich die Freiburger Theologin Ursula Nothelle-Wildfeuer in einem neuen Forschungsprojekt an der Uni Erfurt. Und womit kann die Kirche noch punkten?

Menschenmenge / © samjapan (shutterstock)

KNA: Es ist ja ein weites Feld. Wie findet man heraus, in welcher Gesellschaft wir leben wollen?

Ursula Nothelle-Wildfeuer, Professorin für Praktische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, März 2021 / © Harald Oppitz (KNA)
Ursula Nothelle-Wildfeuer, Professorin für Praktische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, März 2021 / © Harald Oppitz ( KNA )

Ursula Nothelle-Wildfeuer (Freiburger Theologin und Gastwissenschaftlerin an der katholisch-theologischen Fakultät der Uni Erfurt): Meine Forschungen zielen hin auf die Gemeinwohlfrage, auch auf ökonomische Ansätze, die sich dieser Frage widmen, wie etwa die Gemeinwohl-Ökonomie. Eigentlich ist Gemeinwohl ein Terminus und ein Prinzip, das seine Heimat in der christlichen Gesellschaftslehre, in der Sozialethik hat. Und bis vor einigen Jahrzehnten war die katholische Soziallehre die einzige Institution, die Gemeinwohlinhalte formulierte. Momentan tut sie sich eher schwer mit der Füllung des Begriffs.

KNA: Warum?

Nothelle-Wildfeuer: Dass die Kirche auf der Basis ihrer Botschaft detailliert formuliert, was für die Gesellschaft zu gelten habe, funktioniert nur in einer relativ geschlossenen christlichen Gesellschaft. Diese Zeiten sind aber vorbei. Das hat die Kirche auch schmerzhaft lernen müssen. Meines Erachtens geht es jetzt darum, als Kirche und Theologie Ansätze zum Gemeinwohl aus anderen Wissenschaften, etwa der Ökonomie oder der Soziologie, wahrzunehmen und mit den eigenen Überzeugungen neu zusammenzubringen. Die Kirche hat mit ihrer Soziallehre durchaus einen Schatz, mit dem sie wieder wuchern könnte.

KNA: Aber was genau ist denn dieser Schatz?

Nothelle-Wildfeuer: Es ist der Blick immer auf den ganzen Menschen. Es geht etwa darum, Werte ins Spiel zu bringen, deutlich zu machen: Es gibt mehr als nur Materielles in dieser Welt. Konkret kann die Soziallehre wichtige Impulse geben etwa in der Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen, in Fragen nach Sinn und Wert menschlicher Arbeit oder was einen gerechten Lohn ausmacht. Es geht dabei nicht um fertige Konzepte, sondern vor allem um argumentativ gute Punkte. Ich denke, damit kann Kirche Impulse in die Gesellschaft geben und auch Gehör finden, weil es schon eine große Sehnsucht gibt, das Leben in all seinen Dimensionen zu gestalten.

KNA: Je zufriedener die Gesellschaft, desto höher der gesellschaftliche Zusammenhalt, desto stärker am Ende auch die Demokratie - ist das ein Dreischritt, den Sie mitgehen können?

Nothelle-Wildfeuer: Das ist ein sinnvoller Zusammenhang. Denn eine zufriedene Gesellschaft muss nicht eine Gesellschaft sein, die in eine völlig einheitliche Richtung marschiert. Sondern eine Gesellschaft ist dann zufrieden, wenn alle ihre Vorstellungen von gelingendem Leben realisieren können. Je mehr eine Gesellschaft das dem Einzelnen ermöglicht, desto höher der Zufriedenheitsgrad insgesamt, und dann ist natürlich auch der Zusammenhalt größer - und solch einen zivilgesellschaftlichen Zusammenhalt brauchen wir, damit Demokratie funktioniert.

KNA: Wie sieht eine gerechte Gesellschaft aus, in der jeder würdevoll leben kann?

Nothelle-Wildfeuer: Das ist eine Gesellschaft, in der zum einen jeder und jede nach den jeweils eigenen Konzepten die eigene Freiheit realisieren kann und zum anderen insgesamt Gerechtigkeit im Blick auf Arbeitsverhältnisse, auf Lohnfragen, auf Partizipation umgesetzt ist.

Prof. Ursula Nothelle-Wildfeuer

"Das ist für uns Christen ja auch ein Antrieb, dass wir die Hoffnung haben, ein Stück von dem, was wir als "Leben in Fülle" erwarten, tatsächlich hier im Diesseits schon erfahrbar machen zu können."

KNA: Ist diese Idee einer gerechten Gesellschaft, in der alle zufrieden sind, nicht eine Utopie?

Nothelle-Wildfeuer: Ja. In dem Sinne, dass wir diesen Idealzustand nicht irgendwo hier verorten können. Aber es lassen sich kleine Ansätze schon realisieren. Alles, was wir tun, um eine Gesellschaft gerechter zu gestalten, sind Schritte auf dem Weg dahin. Natürlich: Es gibt Egoismus, es gibt Streit, es gibt eine eskalierende Debattenkultur beziehungsweise -unkultur, wie wir es zum Beispiel gerade in den Diskussionen um Corona und die Impfungen erlebt haben. Trotzdem ist es wichtig, diese Utopie oder eher: diese regulative Idee zu haben. Das ist für uns Christen ja auch ein Antrieb, dass wir die Hoffnung haben, ein Stück von dem, was wir als "Leben in Fülle" erwarten, tatsächlich hier im Diesseits schon erfahrbar machen zu können. Und damit ist es dann auch keine reine Utopie mehr.

KNA: Was ist denn grundlegend für solche Realisierungsansätze?

Nothelle-Wildfeuer: Wichtig ist, nicht nur schwarz oder weiß, sondern unterschiedliche Grautöne gelten zu lassen, die Menschen ihre individuellen Vorstellungen leben zu lassen. Was kann dafür ein Rahmen sein - der Frage gehe ich in meiner aktuellen Forschung auch nach. Letztlich: Wie wird eine Gesellschaft so resilient, dass sie lernt, mit den unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit und den damit verbundenen Debatten und Krisen unter den Bedingungen der Knappheit und Begrenzungen, wie wir sie momentan vor Augen haben, gut umzugehen und zu leben. In der Corona-Pandemie, aber auch als Konsequenzen des Ukrainekrieges tritt diese Herausforderung ja auch sehr deutlich zutage.

KNA: Da entzündeten sich ja viele Diskussionen an unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit und wann ich sie einschränke, eng verknüpft mit der Frage nach Solidarität. Brauchen wir vielleicht einen breiteren öffentlichen Diskurs über den Freiheitsbegriff, um uns einer gerechteren und zufriedeneren Gesellschaft anzunähern?

Nothelle-Wildfeuer: Auf jeden Fall. Denn es gibt ja nicht eine vorgeschriebene Definition von Freiheit. Das wäre auch ein Widerspruch in sich. Ich glaube, darum muss immer wieder im gesellschaftlichen Diskurs neu gerungen werden. Und das gelingt uns noch nicht gut - wie die Corona-Krise zeigt, aber auch, als 2015 die Migrationsfrage plötzlich sehr virulent wurde. Da nehmen kleine Gruppierungen plötzlich lautstark für sich in Anspruch zu definieren, was Freiheit ist und für wen sie gilt - und dann sind wir schnell bei Ideologie und beim Populismus.

Prof. Ursula Nothelle-Wildfeuer

"Zur Kommunikation gehört auch Zuhören und Wahrnehmen, was die andere Seite sagen will, und das scheint mir in der momentanen Gemengelage oft verloren zu gehen."

KNA: Ist nicht auch ein Problem, dass wir gern einen gesellschaftlichen Diskurs einfordern - dieser aber de facto nie wirklich alle einbezieht oder einbeziehen kann?

Nothelle-Wildfeuer: In der Tat ist es wichtig und eine große Herausforderung, die vielen Diskurse zu einem Thema, die auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Medien von gesellschaftlichen Gruppen geführt werden, irgendwie zueinander zu bringen und dem anderen sachlich zu vermitteln, um was es einem geht. Zur Kommunikation gehört auch Zuhören und Wahrnehmen, was die andere Seite sagen will, und das scheint mir in der momentanen Gemengelage oft verloren zu gehen. Aus dieser Schieflage müssen wir heraus, um gesellschaftliche Fragen und Belange wieder gemeinsam konstruktiv diskutieren zu können. Dafür braucht es gemeinsame Räume!

Das Interview führte Karin Wollschläger .

Quelle:
KNA