DOMRADIO.DE: Sie waren gerade selber in Rom und haben Kardinal Kasper getroffen. Wie geht es ihm denn jetzt mit 90 Jahren?
Prof. Dr. Johanna Rahner (Lehrstuhlinhaberin Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität Tübingen): Er ist rüstig und fit und viel unterwegs. Ich habe ihn zweimal getroffen, einmal beim Aschermittwochs-Gottesdienst in Santa Sabina am Abend des Aschermittwochs zusammen mit dem Papst, da war er einer der Kardinäle, die dabei waren.
Und per Zufall sind wir uns in der Nähe des Vatikans auf der Straße begegnet, haben uns freundlich gegrüßt, kurz über Tübingen ausgetauscht und darüber, wie es geht. Er ist noch fit, aber er weiß, dass das Alter spürbar ist, lässt sich davon allerdings, glaube ich, nicht unterkriegen.
DOMRADIO.DE: Kardinal Kasper hat in Tübingen an Ihrer Fakultät gelernt und gelehrt. Sie sind also quasi Nachfolgerin auf seinem Lehrstuhl. Welche Rolle spielt er denn heutzutage noch bei Ihnen im Haus?
Rahner: Er ist zwar immer noch so eine Art Spiritus Rector im Hintergrund. Ein Beispiel vielleicht: Wir hatten im letzten Jahr 50 Jahre 'ökumenischer Gesprächskreis' zwischen Wilhelmsstift, also dem katholischen Priesterseminar und dem evangelischen Stift, der Ausbildungsstätte für evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer. Das ist ein Gesprächskreis, der von ihm damals gegründet wurde. Er war dann als Festredner eingeladen und da war klar: Es gibt so eine gute Tradition des ökumenischen Miteinanders, auch des ökumenischen miteinander Ringens, wo im Prinzip sein Name ganz stark mit verbunden ist in Tübingen. Das hat natürlich Geschichte. Und die Geschichte hält bis heute. Diesen Gesprächskreis gibt es immer noch, und er ist einer der buntesten und interessantesten bei uns in der Studierendenschaft.
DOMRADIO.DE: Wie sieht das auf der menschlichen Ebene aus? Spricht man über ihn? Ist es ein Name, eine Person, die präsent ist?
Rahner: In Sachen Ökumene kommen Sie nicht an ihm vorbei. Ich halte im nächsten Wintersemester wieder die zentrale Vorlesung in Ökumene. Da sind einige Beiträge, zum Beispiel die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die durchaus mit der Anfangsphase seiner Tätigkeit am damals so genannten "Einheitssekretariat" zusammenhängen, aber auch verschiedene Wortmeldungen in Sachen Ökumene, die die Ergebnisse der Ökumene der letzten fünf Jahrzehnte zusammenträgt. Dieses Buch ist im Prinzip ein Standardwerk. Ich lese jetzt auch die Christologie im Wintersemester, "Jesus, der Christus" von Walter Kasper, und das ist immer noch ein Standardwerk und Standardlektüre für meine Studierenden.
DOMRADIO.DE: Papst Franziskus hat ihn in einer seiner ersten Predigten zitiert und als großes theologisches Vorbild bezeichnet. Wenn wir mal ganz simpel für die Nicht-Theologen fragen: Warum ist Walter Kasper als Theologe so wichtig?
Rahner: Von seinem Ansatz her ist er so ausgelegt, dass er immer das Gespräch zwischen philosophischem Denken und Theologie gesucht hat, also philosophische Fragestellungen auch immer als kritische Instanz gesehen hat für bestimmte Grundannahmen der Theologie. Dieses alte katholische Grundprinzip "fides et ratio", Glaube und Vernunft, das ist, glaube ich, auch ein Leitspruch, der über seiner Theologie steht.
Deswegen sind seine Werke eigentlich immer so angelegt, dass sie das Gespräch mit aktuellen philosophischen, historischen, auch humanwissenschaftlichen Fragestellungen suchen, damit klar wird: Auch dogmatische Inhalte und Lehren sind nicht freischwebend, sind nicht geschichtslos, sondern sind immer im Diskurs und im Kontext der Zeit, in der sie entstanden sind, aber auch der heutigen Zeit, wo sie wieder neu verstanden werden wollen, zu sehen. Und das ist, glaube ich, eine seiner großen Leistungen, die Dinge zusammenzubringen und im Gespräch zu halten.
DOMRADIO.DE: Gibt es eine große These, eine große Erkenntnis, die von Walter Kasper auf Dauer bleiben wird?
Rahner: Für mich sind immer noch seine ökumenischen Initiativen prägend. Da ist er für eine bestimmte Hermeneutik auch bekannt, in der Idee, dass ökumenische Positionen oder konfessionelle Positionen nicht einfach gegeneinander stehen, sondern verschiedene Perspektiven auf dieselbe Sache bilden, dass sie sich zum Teil komplementär ergänzen. Also die berühmte Rede vom differenzierten beziehungsweise differenzierenden Konsens.
Das ist so eine Hermeneutik, die er mitgeprägt hat und die auch seine Arbeit als Leiter des Einheitssekretariats geprägt hat. Und da würde ich sagen, das ist eine Hermeneutik, um die man heute fast schon wieder kämpfen muss, weil von verschiedenen Seiten, auch von katholischer Seite, hier sehr viel wieder so eine Art Profilökumene und ein Rückschritt eigentlich fast schon hin zur Rückkehr-Ökumene geschaltet wird, wo man den Eindruck hat, da wird am ewig gleichen Maß des immer schon gültig katholischen der ökumenische Fortschritt bewertet. Wenn man so ansetzt, dann kann man Ökumene gleich sein lassen.
DOMRADIO.DE: Genau aus diesen Gründen ist Kardinal Kasper ein großes Vorbild für viele liberale Theologen. Trotzdem kam jetzt in den letzten Jahren viel Kritik von ihm an Kirchenreformen, explizit am Synodalen Weg in Deutschland. Dem hat er jetzt gerade in einem Interview vorgeworfen, ungewollt ins Schisma reinzustolpern. Solche Worte kommen bei den alten Kasper-Fans nicht so gut an. Wie ordnen Sie das ein? Wo kommt das her?
Rahner: Ich höre das viel positiver, er betont ja auch "ungewollt in ein Schisma". Er bekräftigt in einem seiner aktuellen Interviews, dass diese Grundthemen 'Frauenfrage und Synodalität', die eigentlich zentrale Themen beim Synodalen Weg sind, weltkirchlich bearbeitet werden müssen, dass wir riesige Lücken in der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils haben, was solche Themen angeht. Die Frage ist, wie man es macht. Und der deutsche Synodale Weg hat eine bestimmte Art und Weise einer sehr grundsätzlich ansetzenden Art und Weise, die hoch differenziert dann theologisch argumentiert und klare Forderungen stellt. Das ist vielleicht etwas, da ist Kardinal Kasper lange genug in Rom, um das auch zu wissen, womit man diplomatischer umgehen könnte.
Das heißt, die Themen sind wichtig, an den Themen muss man vorankommen. Die Frage ist, wie man es macht. Aber ich glaube, trotz römischer Diplomatie, bleibt er ja deutscher Theologe. Und da ist ihm, glaube ich, auch schon klar, dass es nur mit guten theologischen Argumenten gehen kann. So manche Position, die in manchen Ecken Roms vertreten wird, die also kaum theologisch argumentiert oder ganz stark hinter bestimmte Standards zurückfällt, ist auch nicht das, was er möchte. Aber sicher hat er recht, dass man manche Dinge diplomatischer angehen könnte.
Und zum Thema "ungewollt ins Schisma": Bei der europäischen Kontinentalversammlung der Weltsynode war klar, dass die ganzen großen Themen des Synodalen Weges eigentlich europäische Themen sind, die mehr oder minder deutlich formuliert werden. Die Deutschen haben die Eigenschaft, das klar und deutlich zu sagen. Wobei die Iren das bei dieser Kontinentalversammlung auch konnten. Ich glaube, es ist durchaus eine Frage des Stils und eine Frage der Vernetzung, also dass man mit seinen guten Argumenten nicht allein steht, sondern sich auch Koalitionspartnerinnen und Koalitionspartner suchen muss. Das ist, glaube ich, etwas, was Kasper in seiner römischen Zeit gelernt hat: wie man das macht, wie wichtig das ist. Das ist vielleicht auch etwas, das er ein bisschen als Mangel am deutschen Synodalen Weg sieht. Und da kann ich ihm durchaus zustimmen.
DOMRADIO.DE: Jetzt begehen wir heute den 90. Geburtstag eines Menschen, der eine wichtige Bedeutung für die kirchliche Zeitgeschichte hat. Wenn wir in 50 Jahren auf das Werk von Walter Kasper zurückblicken, werden wir ihn in einer Reihe mit den anderen großen Theologen des 20. Jahrhunderts nennen? Oder wird das etwas sein, wo wir dann gar nicht mehr so wirklich drüber reden?
Rahner: Ich denke, man muss ihn in die große Reihe der deutschen Theologen stellen. Eine halbe Generation vorher waren es sicher Karl Rahner oder Hans Urs von Balthasar. Es gehört auch Joseph Ratzinger dazu. Wir hatten hier in Tübingen die goldenen Zeiten, wo wir alle drei großen Namen hatten: Hans Küng, Walter Kasper und Joseph Ratzinger.
Mit den drei Personen haben Sie sozusagen das ganze Spektrum katholischer Theologie des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts schon benannt. Ich wäre gern dabei gewesen, als die drei zusammen in Tübingen waren, denn das muss richtig spannend gewesen sein, wie man die drei Gestalten mit den drei unterschiedlichen Theologien, auch was die kirchenpolitische Positionierung angeht, irgendwie doch ins Gespräch gebracht hat. Denn Sprechen miteinander, das konnten sie.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.