Theologin sieht "Seele" als Widerstandbegriff an

Ist der Mensch nichts anderes als eine Tomate?

Der Begriff der Seele taucht in vielen Kulturen weltweit auf und steckt heute noch in vielen Ausdrücken in unserer Alltagssprache. Auch die Bibel kennt ihn. Aber hat die Seele heute für uns überhaupt noch eine Relevanz?

Die Seele / © Max4e Photo (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Sie sind aktuell noch im Urlaub auf der Insel Sylt. Können Sie da ein bisschen Ihre Seele baumeln lassen?

Prof. Johanna Haberer / © Peter Lindoerfer (epd)
Prof. Johanna Haberer / © Peter Lindoerfer ( epd )

Prof. Dr. Johanna Haberer (emeritierte Professorin für Christliche Publizistik und Autorin von "Die Seele. Versuch einer Reanimation"): Ich lasse meine Seele baumeln, genau das mache ich. Ich fahre sie aus, ich atme sie ein. Sie wird groß. Man hat eine ganze Menge neuer Ideen, wenn man einfach einmal Ruhe gibt.

DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat denn die Seele heutzutage noch für uns Menschen?

Haberer: Das ist der Grund, warum ich mein Buch "Die Seele. Versuch einer Reanimation" geschrieben habe. Wir haben auf der einen Seite in der Alltagssprache jede Menge Begriffe, die mit der Seele zusammenhängen. Wir sind seelenverwandt, wir lassen die Seele baumeln. Und gleichzeitig haben wir eine empirische Wissenschaft, die eigentlich doch immer mehr dominant ist, auch in unserer Sprache, die versucht, den Menschen als ein berechenbares Programm zu beschreiben.

Wenn Sie das letzte Buch von Harari lesen, dem großen Untergangspropheten der Kultur, der israelische Historiker, der sagt zum Beispiel: Wir werden irgendwann mal begreifen, dass der Unterschied zwischen einer Tomate, einer Giraffe und dem Hirn des Menschen nur eine Frage des Rechenprogramms ist. Dieses Einzigartige, was jeden Menschen als einzigartiges Wesen beschreibt – das beschreibt ja in unserer westlichen Kultur der Begriff der Seele – das wird gerade von den Neurowissenschaften, den Computerwissenschaften, den Kognitionswissenschaften als ein vollkommen überholter Begriff beschrieben. Eigentlich schon seit 100 Jahren. Wir waren in der Kultur dabei, uns von dem Begriff der Seele zu verabschieden, denn die Seele ist nicht nachweisbar. Sie ist nicht berechenbar, sie ist nicht definierbar, sie ist empirisch nicht feststellbar. Und deshalb sind wir dabei, den Begriff eigentlich aus unserer Kultur zu verlieren.

Prof. Dr. Johanna Haberer, Theologin und Autorin

"Dieses Einzigartige, was jeden Menschen als einzigartiges Wesen beschreibt, wird gerade von den Neurowissenschaften [...] als ein vollkommen überholter Begriff beschrieben"

DOMRADIO.DE: Auch in der Theologie geht man nicht mehr immer auf die Seele ein. Was meinen Sie, woran liegt das?

Haberer: In der Theologie hat man versucht, zum Beispiel in einer der Bibelübersetzungen Ende der Achtzigerjahre, den Begriff der Seele, der ja in den Psalmen doch ein ganz tragender Begriff ist,  zu ersetzen, weil er einfach in den modernen Wissenschaften nicht mehr vermittelbar ist.

Von der Theologie in die anderen Lebenswissenschaften hat man versucht, in mit "Leben" zu übersetzen. Also נֶפֶשׁ ("Nefesch") ist der hebräische Begriff oder ψυχή ("Psyche") der griechische Begriff, der wurde dann übersetzt einfach nur mit Leben. Aber das geht nicht auf, weil Leben das eine ist, aber das lebendig sein und das kreativ sein und das traurig sein und das phantasievoll sein und Visionen haben und all das, was eigentlich in unserer 2500-jährigen Geschichte mit dem Begriff der Seele verbunden ist, das lässt sich auf diese Weise nicht ersetzen.

DOMRADIO.DE: Warum ist es denn Ihrer Meinung nach gerade heute auch wichtig, die Seele wieder ins Bewusstsein und ins Leben der Menschen zu bringen?

Haberer: Es ist sehr wichtig, weil er für mein Gefühl eine Art Widerstandsbegriffs geworden ist. Denn wenn Sie den empirischen Wissenschaften folgen, wenn der Mensch nichts anderes als ein Programm ist, dann wird er ja auch austauschbar. Und alles, was wir in der abendländischen Kultur seit 2500 Jahren gedacht haben, über die Einzigartigkeit des Menschen und seine großen Fähigkeiten – zum Beispiel sich zu ändern, ein anderer zu werden – das ist im Kern in dem Begriff der Seele beschrieben und auch natürlich die Würde des Menschen.

Prof. Dr. Johanna Haberer, Theologin und Autorin

"Wenn der Mensch nichts anderes als ein Programm ist, dann wird er austauschbar"

Wenn wir in eine Kultur hineinarbeiten, wo wir auswechselbar werden, wo wir Programme werden, wo der Mensch nichts anderes als eine Tomate ist, nur halt mit anderen Programmaufgaben, dann wird natürlich alles das, was uns ausmacht, über ganz viele Hunderttausend Jahre, dass jeder einzelne Mensch ein einzigartiges Wesen ist, das wird mit der Zeit unterhöhlt. Und das ist meine Sorge. Der Begriff der Seele, der ist auf diese Weise ein Widerstandsbegriff.

Das Interview führte Oliver Kelch.

Am 12. Dezember 2022 hält Prof. Haberer um 19:00 Uhr in der Karl-Rahner-Akademie Köln einen Vortrag mit dem Titel: Die Seele – eine Reanimation. Mehr Infos unter karl-rahner-akademie.de

Quelle:
DR