KNA: Frau Professorin Traub, zu Pessach wird an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und an die Befreiung aus der Sklaverei erinnert. Kann diese Erzählung auch dazu beitragen, sich heute zu vergegenwärtigen, was man hinter sich lassen möchte?
Barbara Traub (Therapeutin und Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs): Gott möchte den Menschen nicht versklavt sehen, sondern frei und mit einem freien Willen ausgestattet. Um Freiheit zu erlangen, müssen wir aus dem gewohnten Umfeld aussteigen, und es erfordert oftmals ein Abschiednehmen von Vertrautem, um neue Ziele zu erreichen – auch, wenn das schwierig sein kann. Das erleben wir Menschen immer wieder, auch heute.
KNA: Um mit den biblischen Bildern zu sprechen: Durch welche Schilfmeere und Wüsten müssen Menschen heute ziehen?
Traub: Da ist zum Beispiel der Krieg in der Ukraine. Viele Menschen müssen ihre Heimat, ihr Haus, ihre Familie verlassen, und sie kommen als Geflüchtete oft nur mit einem Koffer in der Hand an. In der Ukraine selbst wird für die Freiheit des Landes gekämpft. Sie fühlen sich oftmals fremd und sind auf die Hilfe und Unterstützung der aufnehmenden Gemeinschaft angewiesen.
KNA: Können Sie noch weitere Beispiele nennen?
Traub: Im seelischen Bereich kann es bedeuten, mit einer schweren Krankheit konfrontiert zu sein und Abschied nehmen zu müssen. Darüber hinaus leben viele Menschen im Westen in materiellem Überfluss. Hier stellen sich Fragen wie: Was brauchen wir wirklich? Wovon können wir uns trennen? Auch ein solcher Schritt bedeutet Freiheit. Gerade junge Leute leben nach dem Motto "less is more", also weniger ist mehr.
KNA: Was kann auf den Wegen hin zu Veränderung beziehungsweise Freiheit unterstützend wirken, um die Kraft bis zum Ziel zu behalten?
Traub: Es braucht oft einen sehr langen Atem, um ein Ziel zu erreichen. Immerhin ist das jüdische Volk 40 Jahre durch die Wüste gewandert. Kraft kann die Religion geben, indem Menschen auf Gott vertrauen. Religion kann eine Ressource sein, um etwas durchzustehen und zu wachsen.
KNA: Und wenn jemand nicht auf Religion baut?
Traub: Wichtig ist, sich auch auf die eigenen Ressourcen zu besinnen. Welche Kraft kann ich aktivieren? Man sollte sich auch daran erinnern, was einem in anderen schwierigen Situationen schon einmal geholfen hat.
KNA: Pessach fällt in den jüdischen Frühlingsmonat Nissan, der ebenfalls mit Aufbruch und Aufblühen verbunden ist.
Traub: Alles beginnt zu blühen und zeigt uns, dass Sonnenstrahlen immer wieder kommen. Wir sehen ein neues Erwachen.
KNA: Erwächst aus einer erlangten eigenen Freiheit auch eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber?
Traub: Man erreicht nicht nur etwas für sich, behält es und lehnt sich bequem zurück, sondern gibt anderen Menschen etwas davon zurück. Auch das jüdische Volk wächst in der biblischen Erzählung zu einer Gesellschaft. Eine Entwicklung macht der Mensch nicht für sich alleine durch. Auch wenn jemand lernt, sollte dies dialogisch mit anderen geschehen.
KNA: Kann also die Geschichte des Auszugs aus Ägypten auch für Angehörige anderer Religionen eine Botschaft enthalten?
Traub: Ja, die Pessach-Erzählung vermittelt eine Botschaft, die für alle gilt: Der Mensch ist zur Freiheit geboren. Freiheit kommt dabei oftmals jedoch nicht als Geschenk auf einem Silbertablett daher, sondern erfordert mitunter einen hohen Preis. Im Verlauf der Wüstenwanderung entwickeln sich die jüdischen Stämme zu einer Gemeinschaft, die auf ethischen Werten und Verantwortung basiert. Das Judentum lehrt uns, dass Menschen Entwicklungen nicht nur alleine machen sollen, sondern dass auch immer die Bezugsgemeinschaft ein Stück weit involviert wird. Mit der eigenen Veränderung geht sehr oft auch eine Veränderung der umgebenden Gemeinschaft einher.
KNA: Kann eine Verbindung von Religion und Psychotherapie Menschen in besonderer Weise helfen?
Traub: Ich selbst arbeite in der Psycho-Onkologie, begleite also Menschen, die an Krebs erkrankt sind. Eine meiner Quellen als Psychologische Psychotherapeutin ist dabei auch die Religion. Selbst wer sich vielleicht nicht als religiös bezeichnet, hat oft einen diffusen Glauben und ein vages Gottesverständnis. Es geht insgesamt in der Psychotherapie darum, eine zuversichtliche Lebenseinstellung zu erlangen, um Krankheiten oder andere Herausforderungen zu meistern.
Das Interview führte Leticia Witte (KNA).